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Wissenschaftlerin: Viele Suizide könnten verhindert werden

Viele der Menschen, die sich selbst das Leben nehmen, könnten gerettet werden, ist sich Ute Lewitzka sicher. Die habilitierte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie hat Ende vergangenen Jahres die deutschlandweit erste Professur für Suizidologie und Suizidprävention an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main übernommen. Sie kämpfe gegen die Annahme, dass man nichts tun könne, wenn jemand sterben will, sagte Lewitzka dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Die Professorin nennt ein Beispiel aus der Fachliteratur: Der Philosoph Paul Watzlawik erzählt in seinem Vorwort zu dem Buch „Krisentherapie“ von Diana S. Everstine und Louis Everstine von einem österreichischen Landpolizisten. Dieser sah zu, wie ein Mann mit eindeutiger Absicht, sich das Leben zu nehmen, von einer Brücke in die Donau sprang. Er richtete das Gewehr auf den Mann und rief: „Kommen Sie augenblicklich heraus oder ich schieße.“ Der Mann schwamm ans Ufer. Was absurd klingt, war erfolgreich: Der Mann sei aus dem Wasser gestiegen und habe seinen Suizidversuch abgebrochen.

Von dem Entschluss, sterben zu wollen, bis zur Umsetzung dauere es im Schnitt zehn Minuten. In dieser kurzen Zeitspanne „sind die Menschen wie in einem Tunnel“, erklärte Lewitzka. Sie denken weder an den Lokführer, der nach ihrem Tod auf den Schienen traumatisiert zurückbleibt, noch an den Schmerz der Angehörigen. Wenn in dieser kurzen Zeitspanne der Zugang zur gewählten Suizidmethode nicht verfügbar ist, hat der Betroffene eine Chance, aus diesem Tunnel rauszukommen. Das gilt auch, wenn jemand von außen den Betroffenen anspricht.

„Bevor es zu der ganz akuten Situation kommt, kann es aber sein, dass wir bereits Veränderungen bei den Betroffenen wahrnehmen. Vielleicht kann man erkennen, dass es einem Menschen schlecht geht, der sich zurückzieht oder sich vernachlässigt“, sagte Lewitzka. Dann sei es gut, auf die Person zuzugehen und zu fragen: „Wie geht es dir?“ Auch die Nachfrage, ob der Betroffene eventuell denke, dass sein Leben keinen Sinn mehr habe, sei möglich.

Die Befürchtung, jemanden damit erst auf die Idee eines Suizids zu bringen, sei unbegründet. „Den Gedanken hat die Person längst im Kopf“, sagte die Wissenschaftlerin. Im Gespräch jedoch könne sie erleben: „Da sieht mich jemand.“ Das könne schon ausreichen, um jemanden in ein Hilfesystem bringen zu können.

Studien zeigten, dass 75 bis 99 Prozent der Menschen, die beispielsweise davon abgehalten wurden, von einer Brücke zu springen, „nicht nach der nächsten Brücke suchen“. Die Ambivalenz, den Tod als einzigen Ausweg aus einer leidvollen Situation zu sehen und gleichzeitig doch leben zu wollen, bestehe vor dem Suizidversuch und setze sich in der Regel direkt danach fort. Die Wahrscheinlichkeit, hier Leben dauerhaft retten zu können, sei „sehr groß“.

Die Forscherin will Suizide und Suizidversuche systematisch erfassen und auswerten, um daraus eine bessere Prävention ableiten zu können. „Wenn wir in einer Region eine Häufung von Suiziden feststellen, können wir genauer hinschauen und fragen, ‘was brauchen die Menschen in dieser Region?’“. Ein Beispiel sei die sogenannte Methodenrestriktion, das heißt etwa Gebäude, Brücken oder Schienenabschnitte sicherer zu machen. Zudem brauche es mehr niedrigschwellige Versorgungsangebote für belastete Menschen und Informationen. „Die Vermittlung von der Kompetenz, psychisch gesund zu bleiben, zu erkennen, wenn es mir oder einem Mitschüler nicht gut geht und zu wissen, dass und wo es Hilfe gibt, sollte bereits in Schulklassen beginnen“, betonte die Forscherin.

Die Professur solle auch helfen, psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren. Bei etwa 60 bis 90 Prozent der Menschen, die sich das Leben nehmen, können man von einer psychischen Erkrankung ausgehen, sagte Lewitzka. Das stärkste Risiko sei mit einer Depression verbunden.