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«Wir waren dabei!»

Vor 50 Jahren: das «deutsche Woodstock» bei Germersheim in der Pfalz

Germersheim (epd). Klaus Jung (67) ist mit dem Anglerkahn über den Altrhein gerudert. Andere reisten mit dem Auto, mit dem Zug oder auch zu Fuß mit Schlafsack und Zelt an. Manche schafften es nicht, blieben «völlig zugedröhnt» im Stau stecken, wie der Badener Kurt Meister (73) erzählt. Wer aber die Insel Grün mit oder ohne Ticket erreichte, wer «Pink Floyd» und andere Rockstars hörte, der war damals Teil einer großen Sache: Vor 50 Jahren, vom 20. bis 22. Mai 1972, fand auf
der Rheininsel im südpfälzischen Germersheim das «deutsche Woodstock» statt. Mit zwischen 70.000 und 100.000 musikbegeisterten jungen Leuten war das «2. British Rock Meeting» das damals größte Rockfestival in Deutschland.

   Zwar hatte es nach dem Vorbild der ersten Mega-Festivals «Woodstock» (1969) in den USA oder auf der britischen Isle of Wight (1970) auch in Deutschland erste größere Open-Air-Konzerte gegeben. Auf der Ostseeinsel Fehmarn spielte 1970 das Gitarrengenie Jimi Hendrix. 1971 stieg in der Domstadt Speyer, keine 20 Kilometer von Germersheim entfernt, das «1. British Rock Meeting» mit immerhin etwa 30.000 Besuchern. Organisiert wurden beide Open-Air-Konzerte von Marek Lieberberg und seinem damaliger Partner Marcel Avram von der Konzertagentur «Mama Concerts» aus Frankfurt am Main.

   Doch erst der dreitägige Konzertmarathon mit rund 30 Bands auf der 2,4 Quadratkilometer großen Altrheininsel habe die «Initialzündung» für den auch kommerziellen Aufschwung der Festivalkultur in Deutschland gegeben, sagt Klaus Jung vom «Verein Interkultur» in Germersheim. Zum Jubiläum hat der Verein eine Fotoausstellung und ein Konzert organisiert. Jung und seine Kumpels Bernd Meinke (68) und Kurt Simoneit (69) erinnern sich noch heute mit glänzenden Augen daran, wie sie als Jugendliche mit Musikfans aus ganz Europa ein friedliches Fest im Geist der schon abklingenden Hippiekultur feierten: «Wir waren dabei!»

   Ursprünglich war das Festival auf der Friesenheimer Insel in Mannheim geplant, doch der Gemeinderat stellte sich quer. Der Veranstalter «Mama Concerts» wich nach Germersheim aus und fuhr dort ein Programm mit damals angesagten Bands auf, darunter Zugnummern wie Rory Gallagher, «The Kinks», «Uriah Heep» und «Status Quo». Der riesige Publikumszuspruch habe Konzertveranstaltern und Musikmanagern im ganzen Land gezeigt, dass sich mit Rockmusik gut Geld verdienen lässt, sagt der Produzent, Sänger und Gitarrist Frank Bornemann (76) aus Hannover, der dort mit seiner Art-Rock-Band «Eloy» auftrat. Mit «Rock am Ring» in der Eifel rief Lieberberg mehr als zehn Jahre später eines der weltweit wichtigsten Festivals ins Leben.

   Auch in Germersheim blickten die damaligen Stadtväter ängstlich auf die Hippie-Karawane, die auf ihre Kleinstadt zurollte, und wollten das «2. British Rock Meeting» noch in letzter Minute verbieten. Aber der Geist der Freiheit war längst aus der Flasche, erinnert sich Bernd Meinke vom «Verein Interkultur». «Wir gingen gegen Nationalismus und autoritäre Gesinnung an und wollten mehr Demokratie, persönliche Freiheit und Toleranz», sagt der Musikfreund, der das Haar noch immer schulterlang trägt. Als Teenager habe man sich «freischwimmen» wollen von der Elterngeneration, die noch von der NS-Zeit geprägt gewesen sei, ergänzt Vereinskollege Klaus. «Und wir wollten auch einfach Spaß haben.»

   Das von den Behörden erwartete Chaos auf der Insel Grün, auf der sich heute ein Mercedes-Benz-Ersatzteillager befindet, blieb indes aus: Die Blumenkinder feierten ohne Krawalle trotz unzureichender Versorgung und Sanitäranlagen – misstrauisch beäugt von Motorradrockern, die als Ordner eingesetzt waren. Sie tauchten das Festivalgelände mit seinen zwei Bühnen in dichte Haschschwaden – und hielten sich auch nackt tanzend an das Prinzip «Macht Liebe, keinen Krieg». «Nur ein Verletzter wurde ins Krankenhaus eingeliefert, der sich am Lagerfeuer verbrannt hat», erinnert sich Meinke. Allerdings hätten viele der rund 30.000 US-Soldaten, die den Event besuchten, ihrem Frust über den Vietnamkrieg Luft gemacht.

   Das Festival habe gerade der Karriere deutscher Rockbands einen deutlichen Schub verliehen, betont der Schlagzeuger Mani Neumeier aus Hilsenhain im Odenwald. Mit seiner bis heute tourenden «Krautrock»-Band «Guru Guru» lieferte er dort «eine Stunde lang 'Pink Floyd' die beste Vorband ihres Lebens», witzelt der heute 81-Jährige. Deutsche Rockmusiker hätten damals unter der Missachtung ihrer
britischen und amerikanischen Musikerkollegen gelitten, erinnern sich Neumeier und «Eloy»-Chef Bornemann. Im Schlamm auf der Insel Grün sei auch das Selbstbewusstsein deutscher Rockmusiker deutlich gewachsen, sagt der Schlagzeuger Rudi Metzler (70), der das Karlsruher Musikhaus «Rockshop» mitgründete.

   Friederike (72) und ihr Schwager Clemens (67) aus Speyer verkauften damals vom Lastwagen herab frisches Brot aus einer nahen Bäckerei an die hungrigen Konzertbesucher. Josef (68) aus Landau hat sein vergilbtes Ticket aufgehoben – 22 Mark für drei Tage, ein saftiger Preis für junge Leute damals. Die beiden Endsechziger Ulli und Karl-Friedrich aus Frankenthal erzählen ihren Kindern noch heute von dem Ereignis, das Musikgeschichte schrieb. «Das kann nicht getoppt werden», sagt Friederike: Drei legendäre Tage «Love, Peace and Happiness» an Pfingsten 1972 auf der Rheininsel.