„Wir schaffen das!“ Dieser Satz von Angela Merkel in der Bundespressekonferenz am 31. August 2015 war eine ebenso politische wie humanitäre Ansage. Es ging der Bundeskanzlerin und Christin um eine menschliche Haltung in der schon damals aufgeheizten Debatte um Flucht und Asyl. Es ging um grundlegende Werte in einer offenen Gesellschaft wie Freiheit, Sicherheit und Teilhabe. Und es ging um verantwortliches Handeln. „Wir schaffen das“ war ein starker Impuls und eine Bestätigung für die Willkommenskultur.
Als ich 2015 mit meiner Arbeit als Flüchtlingspfarrer im Kirchenkreis Potsdam begann, kamen gerade viele Menschen vor allem über die sogenannte Balkan-Route nach Deutschland. Die Bilder von Frauen, Kindern und Männern auf dem Weg von Ungarn nach Deutschland haben sich ebenso eingeprägt wie die Geschichten, die sie uns über Syrien, Afghanistan, Libyen und viele andere Länder erzählt haben. Sie sind uns ans Herz gegangen wie die Toten im Mittelmeer und in abgestellten LKWs, wie die Brandanschläge auf Flüchtlingsheime.
Starker Rückhalt in Kirchengemeinden
Niemand sollte ohne Schutz und Zuflucht sein. An den großen Ankunftsstellen wie den Bahnhöfen in München oder Berlin fanden sich Ehrenamtliche, die Essen verteilten und erste Orientierung gaben, bis die Verwaltungen Räume für Unterbringung und Versorgung, schließlich auch für Beratung und Sprachunterricht organisierten. Die Willkommenskultur fand einen starken Rückhalt in vielen Kirchengemeinden und Kirchenkreisen. Einige hatten vorher schon durch das Kirchenasyl wichtige Erfahrungen gesammelt. Ehrenamtliche unterstützen bis heute in den Gemeinschaftsunterkünften und in der Integration. Partnerschaften und Freundschaften entstanden. In den Kirchenkreisen wurden Beauftragte angestellt, die für Begegnungen sorgten und Ansprechpersonen für das Kirchenasyl waren. Sie waren die Willkommenskultur und sie sind es bis heute.

Mit Hilfe einer neuen und aufmerksamen Bibellektüre wurden Grenzen überwunden. Die Einteilung in „fremd“ und „einheimisch“ löste sich für viele auf in einem gemeinsamen Unterwegssein zum gedeckten Tisch im Reich Gottes. Barmherzigkeit wurde – um den Einsatz für Gerechtigkeit ergänzt – zur gelebten Solidarität. Es wurde auch gefeiert, interkulturell und interreligiös. Ein großer Dank gilt an dieser Stelle den Migrant:innen-Organisationen, die schon da waren und jetzt auch sichtbar wurden. Diejenigen, die heute noch dabei sind, erinnert das Wort der damaligen Bundeskanzlerin tatsächlich an einen gesellschaftlichen Aufbruch. In mir und in unserer gemeindlichen Asylgruppe entfaltet er bis heute eine Kraft, um Härtefälle im Kirchenasyl zu begleiten. Und ja: Wir schaffen das.
Politik und Gesellschaft stellen sich dagegen
Die Willkommenskultur lebt weiter, auch wenn es in vielen europäischen Gesellschaften immer schon eine reaktionäre und nationalistische Gegenbewegung gibt – denken wir nur an die Leitkultur-Debatte des damaligen CDU-Generalsekretärs Friedrich Merz im Jahr 2000, an die verschärfte Sarrazin-Debatte von 2010 oder an die Übergriffe auf Geflüchtete. Die AfD konnte die gegen jede Form der Zuwanderung gerichtete Stimmung im Land aufnehmen und in Wahlerfolge umsetzen. Die Willkommenskultur konnte aber die derzeitige Abschiebungsdebatte in der Politik nicht aufhalten. So viele Betroffene leiden darunter und sie löst kein einziges Problem. Sollte die Willkommenskultur nicht auch dazu führen, ohne Angst vor Abschiebung eine Ausländerbehörde betreten zu können? Hier muss ein Umdenken zu mehr Menschlichkeit stattfinden.
Wie gut, dass die Kirchen ihre Position in der Willkommenskultur gefunden haben: im Engagement einer großen Zahl von Ehrenamtlichen, in der Öffnung von Räumen, in der interkulturellen Öffnung, in der finanziellen Unterstützung, in vielen Äußerungen der Kirchenleitungen, in den Härtefallberatungen und vor allem in der theologischen Debatte. Wir gehören an die Seite der Geflüchteten.
Es braucht politischen Willen und Einsatz
Eine offene Gesellschaft fällt uns nicht in den Schoß. Wir sind nicht naiv. Probleme wie Wohnungsmangel, sozialer Ausgleich, gesundheitliche Versorgung, Integration und Bildung müssen für alle gewährleistet werden. Durch eine entsprechende Politik sollte das in einem reichen Land möglich sein. Genau darauf hat die Bundeskanzlerin damals hingewiesen. Kommunen müssen mit den nötigen Mitteln ausgestattet werden, um den gesellschaftlichen Frieden zu erhalten – oder neu zu gestalten. Nachhaltig ist die Willkommenskultur heute, wenn wir uns denen zuwenden, die unter die Räuber gefallen sind. Sie an unseren Tisch einladen, wenn wir die von Gott geschenkten Menschenrechte unter uns und gemeinsam mit anderen leben und wenn wir unseren Reichtum teilen. In dem Sinne ist die Willkommenskultur auch heute noch eine Bereicherung für unsere ganze Gesellschaft. Die Ansage von Angela Merkel aus dem Jahr 2015 ist noch nicht eingelöst. Wir sind noch auf dem Weg. Und: Wir schaffen das. Mit Gottes Hilfe.
Bernhard Fricke war von 2005 bis 2015 Seelsorger in der Abschiebungshaft und von 2015 bis 2024 Flüchtlingspfarrer in Potsdam. Er ist Vorsitzender von Asyl in der Kirche Berlin-Brandenburg.
