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“Wir müssen raus aus dieser exklusiven Struktur”

Ziel der Arbeit der Diakonischen Stiftung Wittekindshof ist es nach Worten des scheidenden Vorstands Dierk Starnitzke Menschen mit Beeinträchtigungen in die Gesellschaft zu integrieren. Die Strukturen sollen daher durchlässiger werden, sagte Starnitzke in einem epd-Gespräch in Bad Oeynhausen. Für Menschen mit Beeinträchtigen habe sich in den vergangenen Jahren viel getan. Der Prozess müsse aber weitergehen, betonte der Theologe, der am Sonntag offiziell aus seinem Amt verabschiedet wird.

epd: Der Wittekindshof befindet sich in einem Prozess der Öffnung. Einrichtungen wie das neue Gesundheitszentrum sind Angebote für die Region. Braucht es dann künftig noch einen geschützten Raum für Menschen mit Behinderungen?

Starnitzke: Es ist ganz klar: Einen eigenen geschützten Bereich braucht es nicht mehr. Das ist die Entwicklung seit knapp 20 Jahren, die auch meine Tätigkeit in den letzten gut 18 Jahren sehr geprägt hat. Die ursprüngliche Idee war, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem Menschen mit Beeinträchtigung alles vorfinden, was sie zum Leben brauchen, und wo sie sich frei entfalten können. Wir haben aber gesagt, wir müssen aus dieser eher exklusiven Struktur raus. Wir wollen, dem Grundgedanken der Inklusion folgend, diese Bereiche möglichst vollständig auflösen.

epd: Wie sieht aktuell der Zwischenstand aus?

Starnitzke: Seit Februar sind wir in der Regionalplanung NRW nicht mehr ein planerisches Sondergebiet, sondern ein sogenanntes integratives Quartier. Was jetzt noch auf dem Gründungsgelände an Sonderbereichen existiert, das soll sich in ein integratives Quartier einfügen. Inzwischen haben wir über 100 Standorte in verschiedenen Städten Westfalens und im Rheinland gegründet, wir haben dazu umfangreiche Rahmenvereinbarungen mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe getroffen. Ziel war es, diese problematische Konzentration der Angebote auf dem Stiftungsgelände aufzulösen und unsere Klientinnen und Klienten in Richtung Inklusion zu begleiten. Dieser Prozess ist in guten Teilen geschafft. Aber er muss auch weitergehen.

epd: Im Jahr 2019 haben Vorwürfe der Freiheitsberaubung staatsanwaltschaftliche Ermittlungen ausgelöst. Die Stiftung Wittekindshof hat mit personellen und strukturellen Veränderungen reagiert…

Starnitzke: Bei dem Geschäftsbereich ging es um Menschen mit einem sehr hohen Unterstützungsbedarf, besonders mit Bezug auf ein aggressives Verhalten. Da müssen wir befürchten, dass es problematische Vorgänge gegeben haben soll. Laut Staatsanwaltschaft soll es um 165 Beschuldigte gegangen sein, darunter 145 Mitarbeitende. Die allermeisten Ermittlungen gegen Beschuldigte sind aber laut Staatsanwaltschaft zum Glück eingestellt. Das hat die Stiftung erschüttert, aber es hat zugleich einen enormen Entwicklungsschub gegeben. Diese sogenannten Intensivbereiche konnten völlig anders aufgestellt werden. Wir haben diese Angebote in einem großen Tempo geöffnet und personell und konzeptionell weiterentwickelt. Krisen und freiheitsentziehende Maßnahmen haben massiv abgenommen.

epd: Was hat sich seitdem noch verändert?

Starnitzke: Wir haben einen runden Tisch, wo sich die an der Betreuung der besagten Personen beteiligten Institutionen in Bad Oeynhausen bei Bedarf miteinander abstimmen. Und es wurde auch aufgrund dieser Vorfälle im Wohn- und Teilhabegesetz NRW das Thema Gewaltprävention und die Durchführung freiheitsentziehender Maßnahmen neu geregelt. Wir haben heute eine viel bessere Koordination der verschiedenen Verantwortungsbereiche. Aber es bleibt ein fragiles Konstrukt.

epd: Was bedeutet das?

Starnitzke: Es bleibt ein schwieriges Thema, wie man in der Eingliederungshilfe Menschen unterstützt, die ein hohes Aggressionspotenzial gegenüber anderen Menschen haben. Wir dürfen eigentlich nur intervenieren, wenn sich ein Mensch selbst gefährdet. Wir haben Mitarbeitende, die im Dienst verletzt werden. Und wir haben andere Klientinnen und Klienten, die in einer Krise einer solchen Person massiv gefährdet sind. Da gibt es eine Versorgungslücke. Das wissen auch alle beteiligten Institutionen.

epd: Wäre als Zukunftsperspektive auch ein Zusammengehen mit größeren diakonischen Partnern wie Bethel eine Option?

Starnitzke: Nein, der Wittekindshof ist ein Spezialanbieter mit einer ganz hohen Professionalität in der Eingliederungshilfe. Ich würde dem Wittekindshof nicht raten, sich von einem größeren Verbund vereinnahmen zu lassen. Wichtig bleiben natürlich Kooperationen auf Augenhöhe, die wir schon in vergangenen Jahren eingegangen sind.

epd: Wir erleben, dass populistische Stimmen zunehmen – es wird gegen Migration, gegen Andersartige, gegen Schwächere polemisiert. Sehen Sie auch Risiken für Menschen mit Behinderungen?

Starnitzke: Dass in der Gesellschaft rechtspopulistische Stimmungen zunehmen, bereitet uns große Sorge. Es ist zu befürchten, dass man wieder anfängt, zu diskriminieren und zu unterscheiden. Dass Menschen mit Beeinträchtigungen ihre vollen Menschenrechte wirklich ausüben können, ist eine grundlegende Bestimmung unserer deutschen Verfassung.

epd: Was bedeutet das für den Wittekindshof?

Starnitzke: Wir sind konsequent auf das Thema Inklusion ausgerichtet. Das bedeutet, jeden Menschen so anzunehmen, wie er von Gott geschaffen wurde. Das haben wir in unserem Handlungsleitenden Bild noch einmal verschärft: Niemand darf diskriminiert werden, beispielsweise aufgrund seiner religiösen, kulturellen, sexuellen Orientierung. Wer im Wittekindshof mitarbeitet, ist durch das Leitbild dazu verpflichtet, die Inklusion in seiner Arbeit 100-prozentig umzusetzen. Das ist in den Präambeln der Dienstverträge verankert. Wir haben die klare Erwartung, die auch bei Bedarf arbeitsrechtlich eingefordert wird, dass die ganze Stiftung mit ihrer Mitarbeiterschaft so handelt.

epd: Wenn Sie auf die letzten Jahrzehnte zurückblicken: Was hat sich mit Blick auf das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen getan?

Starnitzke: Es hat in der Zeit meiner Tätigkeit eine enorme Entwicklung in der Eingliederungshilfe gegeben. Gerade in den letzten 15 Jahren ist da juristisch, menschenrechtlich, auch politisch und vor allem fachlich unglaublich viel passiert. Da konnten wir uns als Wittekindshof beteiligen. Das sind die Teile der Arbeit, die richtig Freude bereiten. Es gibt aber noch viel zu tun.

epd: Wie können in der Gesellschaft im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen weitere Hürden überwunden werden?

Starnitzke: Das Thema Bildung spielt dabei eine große Rolle. Wenn Kinder mit ihren Familien in Kindertagesstätten mit einem integrativen Ansatz schon früh lernen, dass die Unterscheidung zwischen beeinträchtigt oder nicht-beeinträchtigt relativ unerheblich ist, dann kann das in die Gesellschaft wirken. Das wird aber ein Prozess sein, der sich über Generationen hinziehen mag.

epd: Was sind für Sie die wichtigsten Wegmarken in Ihrer Tätigkeit für den Wittekindshof?

Starnitzke: Das Wichtigste ist, wie schon erwähnt, die kontinuierliche Öffnung in den letzten knapp 20 Jahren: Weg von einem exklusiven Raum hin zu einem inklusiven. Wir haben ungefähr 700 Menschen aus damals sogenannten stationären Wohnformen in ambulante Wohnformen geführt. Wir erleben, dass diese Menschen in einer eigenen Wohnung leben können, nachdem man jahrzehntelang der Meinung war, sie könnten das nicht. Solche Entwicklungen zu erleben, sind die absoluten Höhepunkte unserer Arbeit.

epd: Was ist Ihnen wichtig gewesen als eine diakonische Stiftung mit einem kirchlichen Hintergrund?

Starnitzke: Wir haben einen christlichen Ansatz, der auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zielt. Nach unserem Verständnis haben alle Menschen den gleichen Wert und die gleichen Rechte.
Konkret wird der christliche Bezug auch darin, dass wir eine große Bruder- und Schwesternschaft mit ungefähr 1.200 Mitgliedern haben. 700 von ihnen arbeiten direkt beim Wittekindshof, davon fast 400 Diakoninnen und Diakone. Natürlich haben wir eine religiöse Begleitung für unsere Klienten und wir haben einen eigenen pastoralen Dienst, der speziell für Menschen mit hohen Beeinträchtigungen nach einer eigenen Fachkonzeption entsprechende Angebote vorhält und unterstützt. Mir war immer wichtig, dass diese christliche Prägung sichtbar bleibt und gepflegt wird.

epd: Was bedeutet es Ihnen, dass die „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ Menschen mit Behinderungen unterstützt, die von 1949 bis 1975 als Kinder in Einrichtungen der Behindertenhilfe Leid und Unrecht erfahren haben?

Starnitzke: Sehr früh in meiner Amtszeit wurde mir gegenüber geäußert, dass es hier massive Gewalterfahrung von Klientinnen und Klienten in den Jahrzehnten nach dem Krieg gegeben hat. Da gab es die klare Erwartung auch an den Vorstand und die Stiftung, sich dazu zu verhalten. Mir war es wichtig, dass eine neutrale Instanz diese Vorgänge bewertet. Es gab dann eine Initiative Runder Tisch, die sich mit Gewaltproblematik in Heimen nach dem Zweiten Weltkrieg befasst hat. Dieser Runde Tisch fokussierte sich allerdings, wie sich am Ende herausstellte, nur auf Heimkinder aus der Jugendhilfe. Der eingerichtete Fonds richtete sich ausschließlich an ehemalige Heimkinder.

epd: Wie hat sich das geändert?

Starnitzke: Es gab eine Initiative von einigen wenigen Trägern, ich habe mich da für den Wittekindshof sehr engagiert. Tatsächlich wurde dann eine zweite Stiftung gegründet, die sich um die Anerkennung von Gewalterfahrungen von Menschen mit Beeinträchtigungen kümmert. Das war ein großer Erfolg. Am Ende hat die Stiftung dann circa 240 Millionen Euro ausgeschüttet.

epd: Was bedeutet das für den Wittekindshof?

Starnitzke: Es hat sich bestätigt, dass eine große Anzahl von Wittekindshofer Klientinnen und Klienten im Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1975 solche Gewalterfahrungen hatten. Diese Menschen konnten Anträge für eine Anerkennung stellen. Mithilfe unseres Archivs, in dem fast alle Bewohner seit Gründung erfasst sind, konnten wir nachweisen, dass die Menschen hier gelebt haben. Wir haben zudem eine historische Studie über Gewaltkonstellationen im Wittekindshof in Auftrag gegeben und veröffentlicht, die diese Vorgänge sehr kritisch aufgearbeitet hat. Über 500 Klientinnen und Klienten des Wittekindshofes haben eine Anerkennung bekommen. Von vielen, die auch noch im Wittekindshof leben, habe ich mitbekommen, wie wichtig ihnen diese inhaltliche und auch finanzielle Anerkennung gewesen ist.

epd: Was nehmen Sie an Erfahrungen und Erlebnissen mit?

Starnitzke: Entscheidend ist die Begegnung mit den Menschen. Was ich da an bereichernden Begegnungen erlebt habe, das kann man nicht in Worten ausdrücken.

epd: Was machen Sie nach der Verabschiedung aus dem Wittekindshof?

Starnitzke: Erst einmal werde ich meine private Zeit mit meiner Frau und meiner Familie genießen. Meine Frau war auch Pfarrerin und wir sind froh, dass wir jetzt kulturelle Veranstaltungen besuchen, Reisen unternehmen oder den Garten genießen können. Darüber hinaus bin ich Außerplanmäßiger Professor an der Universität Bielefeld. Wir haben ein Institut für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement gegründet, an dem ich sehr gerne lehre und arbeite. Außerdem habe ich noch weitere Buchprojekte in der Mache, die sich in dem Themenkreis biblische Theologie und Unternehmensführung bewegen. Schließlich könnte ich mir vorstellen, meine praktischen und theoretischen Kenntnisse bei Bedarf auch an andere beratend weiterzugeben.