Der Leiter der Gedenkstätte Auschwitz schließt Russland von den Feierlichkeiten zur Befreiung des Lagers aus. Die Reaktion des Kremls kommt prompt. Sie zeigt, wie Russland Auschwitz für politische Zwecke nutzt.
“Dies ist das Jahr der Befreiung”, sagte Piotr Cywinski, Leiter der Gedenkstätte Auschwitz, als er verkündete, dass Russland in diesem Jahr nicht bei den Feierlichkeiten dabei sein darf. Es ist der 80. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers – und zum dritten Mal in Folge wurde Russland ausgeladen. “Es ist schwer, sich vorzustellen, dass Russland, das den Wert von Freiheit nicht versteht, anwesend ist”, begründete Cywinski seine Entscheidung.
Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee das Lager. Seit 1996 begeht Deutschland an diesem Datum den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. 2006 wurde er auf Beschluss der Vereinten Nationen auch weltweit in den Kalender übernommen. Aber wie erinnert Russland an Auschwitz? Und wie nimmt es die Ausladung wahr?
Viele große Staatsmedien griffen das Thema auf. Ob “lenta.ru”, das größte russische Online-Portal mit mehr als 600.000 Aufrufen am Tag, oder die Zeitung Vedomosti, ob der große Auslandssender Sputnik.ru oder das Internetportal eurasia.daily – alle berichteten.
Bei eurasia.daily kritisierte Dmitri Sokolow-Mitrich, Journalist der Zeitung “Isvestia”, Cywinskis Ausladung scharf: “Das Datum wird nicht von denen gefeiert, die das Konzentrationslager befreit haben, und auch nicht von denen, die die Mehrheit der Häftlinge ausmachten”, so der Kremlfreund: “Die Befreiung wird von denjenigen gefeiert, die sie vernichteten, sich an ihrer Vernichtung mitschuldig machten und die Juden an die deutschen Besatzungsbehörden auslieferten.”
Nicht ungewöhnlich ist, dass Sokolow-Mitrich mit keinem Wort den russischen Krieg in der Ukraine erwähnt, mit dem Cywinski die Ausladung begründet hatte. Denn bis heute ist es in Russland verboten, den Krieg beim Namen zu nennen. Stattdessen ist weiter von einer “Spezialoperation” die Rede. Ungewöhnlich ist aber, dass Sokolow-Mitrich an das Leid der Jüdinnen und Juden erinnert, wenn er über die Befreiung von Auschwitz spricht.
“Die sowjetische und später die russische Erinnerung blendete das Schicksal der Jüdinnen und Juden, aber auch vieler anderer Opfergruppen weitestgehend aus”, erklärt Anke Hilbrenner, Professorin für osteuropäische Geschichte an der Uni Düsseldorf. Die sowjetische Zensurbehörde verbot es nach 1945 beispielsweise, eine Sammlung von jüdischen Überlebenden zu veröffentlichen. Stattdessen standen und stehen in Russland die Rote Armee und ihre Soldaten als Helden im Fokus der Erinnerung an Auschwitz, wie Hilbrenner sagt.
Weil Russland das Leid der Jüdinnen und Juden lange verschwieg und unterdrückte, verwundert es auch, dass Wladimir Putin vor fünf Jahren – zum 75. Gedenktag – gezielt auf das Leid der Juden einging und eigens nach Israel reiste: “Wir trauern um alle Opfer des Nationalsozialismus, einschließlich der sechs Millionen Juden, die in Ghettos und Konzentrationslagern zu Tode gefoltert und während der Strafaktionen brutal ermordet wurden”, sagte er 2020 in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem.
Für Hilbrenner scheint die Motivlage klar: “Wer das Leid der Jüdinnen und Juden anerkennt, wird Teil einer internationalen Erinnerungsgemeinschaft.” 2020 hatte Russland noch nicht die Ukraine angegriffen, auch die Zukunft des wirtschaftlichen Großprojekts Nordstream 2 sah aus russischer Perspektive noch hoffnungsvoll aus. Länder im östlichen Europa wie Polen, Litauen und auch die Ukraine hatten davor gewarnt, das Gaspipeline-Projekt zu verwirklichen – und Russland stand nach der Annexion der Krim 2014 international in der Kritik.
Umso stärker musste der Kreml nach außen demonstrieren, dass von ihm keine Gefahr ausgehe und dass es sich weiterhin lohne, wirtschaftlich zusammenzuarbeiten. Die Erinnerung an die Befreiung von Auschwitz sollte Russland wieder einreihen in den Kreis der Länder, die erinnerungspolitisch auf der “richtigen” Seite stehen und so Vertrauen wiederherstellen, das spätestens seit der Krim-Annektion beschädigt war. Die Erinnerung an Auschwitz war und ist für Russland ein Instrument seiner Außenpolitik.
Cywinskis Entscheidung schlug jetzt noch weitere Wellen: Kremlfreundliche Zeitungen in Russland und serbische Medien berichteten davon, dass sich der serbische Präsident Aleksandar Vucic mit Russland solidarisiert habe. Der kremlfreundlichen Online-Platform Lenta.ru zufolge soll Vucic am Rande einer UN-Versammlung kritisiert haben, dass “diejenigen, die die Gefangenen freigelassen haben, und das sind die Russen, nicht eingeladen werden”.
Serbien gilt als kremlfreundlicher Staat, deshalb ist Vucics Reaktion nicht ungewöhnlich. Darüber hinaus aber zeigt die Reaktion der serbischen Medien Erfolge bei der Suche Russlands nach Partnern im Kampf um die Deutungshoheit.