Artikel teilen:

Wie lange kann Serbien noch politischer Tausendsassa sein?

Washington, Moskau, Brüssel, Peking – Serbiens Präsident Aleksandar Vucic will in allen Weltmächten einen Freund gefunden haben. Doch der Kuschelkurs in alle Himmelsrichtungen wird zunehmend schwieriger.

Eine politische Irrfahrt. So beschreiben manche Beobachter Serbiens Außenpolitik. Der EU-Beitrittskandidat umwirbt seine europäischen Partner, handelt Bergbau- und Rüstungsdeals mit Deutschland und Frankreich aus. Gleichzeitig kuschelt die Regierung von Präsident Aleksandar Vucic mit Russland. Für diesen Zickzack-Kurs gab es zuletzt Kritik sowohl aus Brüssel als auch Moskau. Experten sehen den politischen Tausendsassa zunehmend an einem Punkt angelangt, an dem er sich für eine Seite entscheiden muss.

Die Warnung des russischen Auslandsgeheimdienstes SVR vorige Woche war deutlich: Offenbar wolle die serbische Rüstungsindustrie vom “Blut brüderlicher slawischer Völker profitieren”. Dabei vergesse das Land völlig, wer sein wahrer Freund sei. Hintergrund der Schelte: Moskau wirft Serbien vor, Waffen an die Ukraine zu liefern. Über Zwischenhändler wie Tschechien, Polen, Bulgarien und afrikanische Staaten seien Hunderttausende Granaten, Haubitzen und eine Million Schuss Munition für Kleinwaffen in das Kriegsgebiet gelangt. Staatschef Vucic bestritt die Vorwürfe und kündigte eine Untersuchung an.

Tatsächlich sind die Gerüchte nicht neu. Bereits vor einem Jahr berichtete die “Financial Times”, dass Serbien die Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskrieges mit Munition im Wert von 800 Millionen Euro beliefert habe.

Laut Nikola Burazer, Politologe in Belgrad, ist der Zeitpunkt, zu dem der SVR das offene Geheimnis anspreche, kein Zufall: Vorigen Monat nahm Vucic an Putins Militärparade auf dem Roten Platz anlässlich des 80. Jahrestags des Weltkriegsendes teil – ein “bedeutendes Zugeständnis an Moskau”, so Burazer. “Entweder hat Moskau die Schwäche Belgrads gespürt und beschlossen, mehr Druck auszuüben, um seine Interessen durchzusetzen. Oder es handelt sich um eine Art Vereinbarung.” Letztere könnte darauf abzielen, Serbien in den Augen des Westens als Opfer russischer Vorwürfe dastehen zu lassen.

Über Jahrzehnte galt Serbien als Europas “Stabilokratie” auf dem Balkan: Belgrad hielt in der zerrütteten Vielvölkerregion einen fragilen Frieden aufrecht; im Gegenzug drückte der Westen bei Wahlmanipulation, politisch motivierten Schauprozessen und Medienbeeinflussung ein Auge zu. Ähnliches gilt für die aktuellen Studentenproteste: Seit Monaten gehen junge Serben auf die Straße, um gegen Vucics Staatsvereinnahmung zu demonstrieren; jüngst schlug sich auch die einflussreiche serbisch-orthodoxe Kirche auf die Seite der Regierung.

Vucic beschwichtigt, weist Kritik aus dem Westen zurück – und setzt seinen außenpolitischen Spagat fort. Das sei typisch, meint Adnan Cerimagic, Senior Analyst der European Stability Initiative in Berlin: “Trotz gelegentlicher Spannungen gelingt es ihm bis heute, alle Seiten ein wenig zu verärgern – und ein wenig zufriedenzustellen.”

Allerdings wird dieses Sitzen auf zwei Stühlen nach Einschätzung von Politologe Burazer zunehmend kostspielig für Belgrad. Zudem habe sich die serbische Regierung nicht ausreichend auf den Moment vorbereitet, in dem sie sich entscheiden müsse. Der scheint jedoch näher zu rücken: Sowohl die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas als auch Erweiterungskommissarin Marta Kos drängten Serbiens Staats- und Regierungsspitze in den vergangenen Tagen dazu, sich zu Demokratie und europäischen Werten zu bekennen. Kallas forderte “wirkliche Fortschritt” bei der Medienfreiheit, dem Kampf gegen Korruption und beim Wahlsystem.

Mit Skepsis betrachtet Südosteuropa-Experte Cerimagic das Aufwachen der EU. Er unterstellt der Union eine Mitverantwortung für Serbiens Demokratie-Krise: “Seit dem EU-Beitritt Kroatiens 2013 hat es Brüssel nicht geschafft, seine Nachbarn dauerhaft an sich zu binden. Wo Fortschritt kam – wie in der Ukraine, Georgien, Moldau oder Nordmazedonien – geschah dies aufgrund inneren Drucks oder äußerer Angriffe, nicht wegen überzeugender EU-Politik.” Zuckerbrot oder Peitsche – was braucht es, um autoritäre Eliten auf dem Balkan zu Reformen zu bewegen? Für Cerimagic ist klar: “Solange es keine klare EU-Beitrittsperspektive für den Westbalkan gibt, bleibt die EU für Vucic ein Akteur unter vielen.”