Wenn der Hirntod eintritt, kommt man in Deutschland als Organspender infrage. So wie Jan, der Mann von Marlene Bayen*. Für Angehörige ist eine solche Situation schwierig. Sie kann aber auch Trost geben.
Am Sonntagabend noch mit Freunden ausgehen. Am Montag aufwachen und den Notarzt rufen, weil dem eigenen Mann speiübel ist und er nach dem Aufstehen zusammenbricht. Am Mittwoch die Nachricht erhalten, dass er an der diagnostizierten Hirnblutung sterben wird. Und am Freitag den hirntoten Liebsten in den OP-Saal verabschieden, weil er verfügt hat, dass er in einem solchen Fall seine Organe spenden will.
So war es damals, im Oktober vor einem Jahr, erzählt Marlene Bayen, die eigentlich anders heißt. Die zierliche Frau mit dunklem Haar und hellen Augen schildert an diesem windigen Herbsttag in einem Cafe in Berlin-Friedrichshain die letzten Lebenstage ihres Mannes Jan, der nach seinem Hirntod in einem Krankenhaus im Kiez seine Nieren und seine Leber entnommen bekam. Der Hirntod – der irreversible Ausfall aller Hirnfunktionen bei vorhandener Kreislaufaktivität und künstlich aufrechterhaltener Atmung – ist in Deutschland maßgeblich für die Entscheidung zur Organspende.
“So unsinnig kommt einem so ein früher Tod vor”, sagt Bayen, die jetzt ihre achtjährige Tochter allein erzieht. “Aber ich weiß, dass es drei Menschen irgendwo gibt, die mit einem Teil von meinem Mann weiterleben können. Für uns alle – mich, meine Tochter, seinen Bruder, seine vielen Freunde – war das ein kleiner, ein Mini-Trost. Es war nicht völlig umsonst.”
Erst ein Jahr vor seinem Tod hatte Jan mit ihr zusammen eine Patientenverfügung ausgefüllt. Nach dem Tod seiner Eltern, die zuvor ohne eine solche Verfügung relativ kurz hintereinander gestorben waren, wollte er für seine Angehörigen mehr Entscheidungssicherheit bei seinem eigenen Tod. “Ich habe noch gesagt, ‘muss das jetzt sein?’ – mein Mann war schließlich gesund und knapp 50 Jahre alt – aber er war da ganz klar und sagte, ‘Komm, setz dich, wir machen das jetzt’.”
Heute sei sie ihm unendlich dankbar dafür. Das Leben könne so schnell vorbei sein. “Man kann nicht vorhersagen, wann Schluss ist”, sagt Bayen. In der ohnehin schon äußerst belastenden Situation habe die Patientenverfügung ihr sehr geholfen. “Ich wusste einfach genau, was mein Mann wollte.”
Dass eine solche Vorsorge erleichternd sein kann, bestätigt Verena Esch, Oberärztin und Transplantationsbeauftragte am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Trier. “Angehörige sind in der Regel sehr froh, wenn es eine entsprechende Patientenverfügung oder einen Organspendeausweis gibt, weil sie dann nicht selbst entscheiden müssen – sei es nun pro oder contra. Sie wissen, es gibt einen Wunsch, und in den allermeisten Fällen akzeptieren sie das”, sagt Esch. Die Gespräche seien bei der Diagnose Hirntod in der Regel ohnehin doppelnd belastend. “Man muss sagen, dass derjenige sterben wird – und auch, dass er als Organspender infrage käme.”
714 Menschen gaben im laufenden Jahr ein Organ oder mehrere Organe für andere nach ihrem Tod frei, so die koordinierende Deutsche Stiftung Organtransplantation. Sowohl die Zahl der Spender als auch der gespendeten Organe geht zurück – während mehr als 8.200 Menschen bundesweit auf ein Spenderorgan warten.
Nach Einschätzung von Esch hat es auch deshalb in den vergangenen vier Jahren bundesweit eher wenig Organspenden gegeben, weil ihrer Einschätzung nach das Misstrauen in die Medizin seit Corona gestiegen sei. Zudem sei Selbstlosigkeit immer weniger attraktiv. “Die Menschen konzentrieren sich mehr auf sich selbst.”
Sie empfiehlt eine breite Informationskampagne, um die Menschen besser aufzuklären und ihnen ihre Ängste zu nehmen. Die drängendsten Fragen seien in der Regel, “ob man wirklich tot ist oder ob die Ärzte vielleicht nur die Organe wollen”; zudem machten sich viele Menschen darüber Sorgen, ob die Ärzte den Verstorbenen bei der Organentnahme auch “anständig” behandeln würden.
“Man kriegt in so einer Situation komische Gedanken”, sagt auch Bayen. “Ich hatte plötzlich Angst, dass man es nachher sehen kann, dass die Organe entnommen wurden, dass er irgendwie gefleddert aussieht”, erzählt sie, die selbst Biologin ist und sich als rationalen Menschen bezeichnet.
Sie sprach ihre Ängste offen im Krankenhaus an – und war beruhigt, auch als sie ihren Mann später im Sarg sah, angezogen für die Abschiedsfeier. “Man sah es nicht. Er lag da in seinem Hoodie und seinen Jeans und sah aus, wie er halt aussah.” Selbst der Bestatter, der ihren Mann für die Abschiedsfeier gewaschen und angezogen hatte, wollte zunächst nicht glauben, dass ihm zuvor Nieren und Leber entnommen worden waren – weil er so unversehrt wirkte.
“Wir legen größtmöglichen Wert darauf, die Wunden sorgfältig zu verschließen, wie bei jeder anderen Operation auch”, bestätigt Esch. Von außen solle man dem Verstorbenen die Entnahme nicht ansehen – gerade weil Angehörige sich danach verabschieden wollen.
Im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder haben Angehörige vor und nach der Organentnahme dazu Gelegenheit. Ein Team aus Ärzten, Pflegern und Seelsorgern begleitet sie dabei. “Eine solche Situation ist emotional nicht einfach zu bewältigen”, sagt Markus Leineweber, Theologe und Direktor für Unternehmenskultur am Trierer Krankenhaus.
“Wenn jemand hirntot ist, stellen sich die Todesmerkmale nicht ein, die den Angehörigen dabei helfen, zu begreifen, dass derjenige gestorben ist”, erklärt er. Das heißt, derjenige atmet noch, ist warm, hat eine rosige Haut. “Der Tod ist noch nicht handgreiflich spürbar.” Das liegt daran, dass das Herzkreislaufsystem künstlich aufrecht erhalten wird, bis die Organe entnommen werden.
Auch den letzten Atemzug bekommen Angehörige auf diese Weise nicht mit. Ein hirntoter Mensch, der seine Organe zur Spende bereitstellen will, wird künstlich beamtet, bis etwa Herz, Lunge, Niere oder Leber herausgenommen werden. Erst danach werden alle Schläuche gezogen und die Beatmung abgeschaltet. Und erst dann stellen sich auch die Todesmerkmale ein – die Haut wird grau, der Leichnam kühlt aus. “Der Angehörige darf nicht den Eindruck bekommen, dass der liebste Mensch erst durch die Organentnahme wirklich stirbt”, betont Leineweber.
Auch für die Mitarbeiter sei es in der Regel keine einfache Situation, “psychisch sehr anstrengend”, sagt Ärztin Esch. Es helfe, vor der OP eine Schweigeminute für den Verstorbenen einzulegen. “Wir denken dann an ihn, machen uns klar, dass er verstorben ist und sein Leben nicht weiterführen kann. Außerdem wollen wir damit unsere Dankbarkeit und unseren Respekt zeigen – gegenüber dem, was er gibt.”
Die Deutsche Stiftung Organspende hat eine Seite ins Leben gerufen, wo sie anonyme Dankebriefe von Transplantierten veröffentlicht. Dort heißt es etwa: “Ich hatte keine Hoffnung mehr. Und dann kam der Anruf. Für mich ist ein passendes Herz gefunden. Ein Moment voller Gefühle, überwältigt von der Güte dieses einen Menschen und seiner Familie.”