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“Wicked” – Teil 1 der ungewöhnlich geglückten Musical-Verfilmung

Erster Teil der Musical-Verfilmung über die Figuren aus dem “Zauberer von Oz”. Dabei geht es vor allem um die Jugend der späteren bösen Hexe des Westens. Der Film entfaltet einen Zauber, wie er echte Seltenheit besitzt.

Ein Gemüt wie das der Munchkins kann bei Licht besehen schon etwas Angst machen. Zwar steht am Anfang von “Wicked” keine Wiederaufnahme von “Ding Dong, die Hex ist tot”, mit dem das Munchkin-Volk aus dem wundersamen Lande Oz im ikonischen “Zauberer von Oz”-Film von 1939 den Tod der Bösen Hexe des Ostens kommentiert hatte. Doch auf die Nachricht vom Ableben ihrer noch verrufeneren Verwandten, der Bösen Hexe des Westens, ist die Freude vergleichbar ungebändigt, und so setzt “Wicked” mit lautem Jubelgesang über die “guten Neuigkeiten” ein, während die Munchkins die schützenden Barrikaden an ihren Häusern und die Warnplakate mit dem Bild der grünhäutigen Hexe niederreißen.

Doch schon bald wird klar: Vom Albtraumbild des grässlich keifenden, giftgrünen Kinderschrecks muss man sich in “Wicked” verabschieden, während die Sympathie für die Hauptfigur Elphaba schnell etabliert ist. Wegen ihrer angeborenen grünen Hautfarbe wird diese schon als Neugeborenes von ihrem Vater verachtet, dem Gouverneur des Munchkinlandes; und als Kind entlädt sich der ganze Spott der Altersgenossen über ihr. Spontane Schreckensschreie löst sie auch dann noch aus, wenn sie als junge Erwachsene die Internats-Hochschule Shiz betritt, die sich im Film als freundlichere Variante von Harry Potters Hogwarts präsentiert.

Elphaba ist eigentlich nur zur Begleitung ihrer jüngeren Schwester Nessarose mit, weil die im Rollstuhl sitzt. Nach einer emotionalen Kurzschluss-Reaktion, die ihre magischen Kräfte enthüllt, wird sie aber ebenfalls als Studentin aufgenommen. Für Zauberei-Professorin Madame Morrible ist Elphaba ein Ausnahmetalent, das es zu fördern gilt, wohingegen diese ihre Kräfte, die sie weder erklären noch kontrollieren kann, bislang nur mit Angst und Unsicherheit betrachtete.

Früh werden hier die Selbstzweifel als zentrales Motiv des Films etabliert, was nicht nur die einfühlsame Sicht auf Elphaba festigt, sondern sich auch bei der zweiten Protagonistin offenbart: Galinda (Popstar Ariana Grande) tritt zunächst wie eine typische College-Bienenkönigin auf, die mit einer Armada pinker Koffer voller Schönheits-Accessoires in Shiz einzieht, sofort einen Hofstaat von Bewunderern um sich sammelt und vor Selbstbewusstsein zu bersten scheint. Ihre Egozentrik wird jedoch erschüttert, als ihre Bewerbung für den Zauberunterricht brüsk zurückgewiesen wird und sie ausgerechnet Elphaba als Zimmergenossin akzeptieren muss.

Die extrovertierte, ihre Verunsicherung überspielende Blondine und die nachdenkliche, dezent sarkastische Grünhäutige sind sich im ersten Teil des Films spinnefeind und tragen ihre Abneigung offen aus, was die Sympathielenkung für Elphaba noch verstärkt. Gleichzeitig wird in der feinfühligen Interpretation von Cynthia Erivo die Empfindsamkeit als Elphabas bestimmender Charakterzug immer deutlicher, wenn sie als Einzige an der Hochschule gegen ein offensichtliches Unrecht aufzubegehren beginnt. Denn sprechende Tiere, die bislang in die Gesellschaft integriert waren, werden in Oz mehr und mehr zu Feindbildern, die man verfolgt und ihrer Arbeitsplätze und Bürgerrechte beraubt. Ein weiterer Grund für Elphaba, ihre ganze Hoffnung auf eine Begegnung mit dem als allmächtig beschriebenen Zauberer zu richten.

Bevor es zum Aufeinandertreffen der jungen Hexe mit dem Herrscher über Oz kommt, vergehen allerdings rund zwei Filmstunden, denn “Wicked: Teil 1” nimmt sich mit einer Länge von 160 Minuten so viel Zeit, wie sie andere Musicals für ihre komplette Geschichte benötigen. Die gedehnte Laufzeit zahlt sich erzählerisch aber außergewöhnlich aus. Die einzelnen Musiknummern werden im Vergleich zur Bühnenversion teils erheblich und inhaltlich stets gewinnbringend erweitert. Und auch die Schauplätze werden mit einer Detailfreude ausgestattet, die einen stimmungsvollen Hintergrund für die ebenso sorgfältig ausgemalten Charaktere bildet.

Die unterschwelligen Verweise auf eine Gesellschaft, die über die Ausgrenzung von Schwächeren und pompöse Inszenierungen am Laufen gehalten wird, besitzen trotz aller Verspieltheit eine pointierte Aktualität. Die Diskriminierung, wie sie vor allem Elphaba systematisch – und mit klarem rassistischem Unterton – wird schmerzhaft deutlich.

In vielerlei Hinsicht erweist sich “Wicked” auch formal als ungewöhnlich geglückte Musicalverfilmung. Dazu gehören die großen Massen-Tanzszenen ebenso wie die intimeren Songs von Komponist Stephen Schwartz. Und in den großen Solo- und Duett-Darbietungen lassen Erivo und Grande ihre Gesangsstimmen glänzen. Und die beiden gleichermaßen fesselnden Heldinnen werden flankiert von einer Reihe ebenso kongenial besetzter Nebenfiguren.

Die entspannte Aura der Inszenierung kommt auch dadurch zustande, dass die größten erzählerischen Herausforderungen allesamt auf den zweiten Teil verschoben werden. Der Wandel Elphabas zum Hassobjekt von Oz, ihr Verhältnis zum Zauberer, die Genese der Bösen Hexe des Ostens und anderer wichtiger Figuren sowie insbesondere die Rückbindung von “Wicked” an die vertraute Geschichte um das Mädchen Dorothy Gale sind allesamt herausfordernde Stränge, die in der Fortsetzung gemeistert werden wollen. Bis dahin aber darf der erste Teil einen Zauber entfalten, wie er im Kino der Attraktionen echte Seltenheit besitzt.