Sieben lange Jahre ist es her, dass Thomas B. seine jüngere Tochter zum letzten Mal gesehen hat. Vergangenen Sommer hat die 18-Jährige ihr Studium begonnen. “Die Studenten der Universität Zürich gehen vom Hauptbahnhof die Treppe hinauf, die direkt an meinem Büro vorbeiführt”, erzählt B.: “Ich hielt von meinem Fenster aus oft nach ihr Ausschau. Dann habe ich letzte Woche ein aktuelles Foto von ihr gesehen und musste mir eingestehen: Ich hätte meine eigene Tochter wohl gar nicht erkannt.” Er lacht trocken und deutlich ist die Mischung aus Traurigkeit und Resignation zu spüren, die sich in der Zeit der Trennung aufgebaut hat.
So wie Thomas B. geht es vielen Elternteilen nach einer Trennung vom Partner – meist Vätern. Wenn Kinder durch gezielte Manipulation eines Elternteils plötzlich den Kontakt zum anderen Elternteil verweigern, sprechen Teile der Wissenschaft von Parental Alienation (PA) – auf Deutsch: Eltern-Kind-Entfremdung. Der internationale Tag gegen Eltern-Kind-Entfremdung an diesem Freitag, initiiert vor knapp 20 Jahren von der Parental Alienation Awareness Organisation (PAAO) in Kanada, will auf das Phänomen aufmerksam machen, das bislang eher weniger Beachtung findet.
Vor allem Trennungskinder betroffen
“Uns fehlen belastbare Zahlen, weil das Problembewusstsein in der Politik nicht existiert und deshalb Studien nicht durchgeführt wurden”, sagt Hans-Peter Dürr. Er leitet seit 2011 das KiMiss-Projekt der Universität Tübingen und untersucht die Frage, in welchem Ausmaß sich eine konflikthafte Trennung auf das Kindeswohl auswirken kann.

“Breiteste Akzeptanz findet die Schätzung des Deutschen Jugendinstitutes, dass etwa 20 bis 30 Prozent aller Trennungskinder früher oder später den Kontakt zu einem der beiden Elternteile abbrechen”, erklärt Dürr. “Da wir uns in Deutschland noch nicht darauf geeinigt haben, wie man Eltern-Kind-Entfremdung diagnostiziert, können wir aber nicht sagen, welcher Anteil davon einer – induzierten, also absichtlich herbeigeführten – Entfremdung zugeordnet werden kann.”
Experte warnt vor wertenden Begriffen
In der Öffentlichkeit würden diese Erkenntnisse kaum beachtet. Wenn Kinder nicht mehr mit einem Elternteil sprächen, gehe man eher von einer Folge familiärer Gewalt oder von Kindesmissbrauch aus, sagt Dürr.
Manche Studien gehen derweil davon aus, dass forcierte Entfremdung nicht existiert. Die Deutsche Kinderhilfe schreibt in einer Stellungnahme, mit Begriffen wie “Bindungsintoleranz”, “Eltern-Kind-Entfremdung” oder “trennungsinduzierter Kontaktabbruch” würden auch von Gewalt betroffene Mütter diskreditiert, um ihnen im schlimmsten – nicht seltenen – Fall das Sorgerecht zu entziehen.
Entfremdungs-Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent
Die Forschungsergebnisse des KiMiss-Instituts kommen zu anderen Schlüssen: Demnach gehen rund 62 Prozent der untersuchten Fälle von Entfremdung auf eine Form von emotionalem Missbrauch oder psychischer Misshandlung zurück. Grundsätzlich entscheidend sei die tatsächliche Erziehungszeit. Auch beim hierzulande gängigen Standard der Umgangsregelung, bei denen meist Vätern ein Anteil von etwa einem Drittel Beziehungszeit bleibt, sei von einer Entfremdungs-Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent auszugehen.

Experte Dürr sieht Handlungsbedarf. Kein Kind auf der Welt habe es verdient, dass man ihm einen geliebten Menschen wegnehme, sagt er. “Die Gespräche, die wir mit betroffenen Elternteilen führen, zeigen immer Zustände von Verzweiflung, Ohnmacht, Hilflosigkeit oder Wut – je nach Stadium der Entfremdung.”
Kinder werden schnell zum Spielball
Gefühlsstadien, die auch Thomas B. durchlaufen hat. “Meine Ex-Frau hat ab der endgültigen Trennung darauf hingearbeitet, dass unsere beiden gemeinsamen Töchter keinen Kontakt mehr zu mir haben”, sagt der 45-jährige Schweizer. “Nur ein erster großer Schritt dahin war der Umzug von unserem Wohnort Olten in den Kanton Graubünden – zweieinhalb Autostunden entfernt. Der älteren Tochter, die mich und ihre alten Freunde weiterhin sehen wollte, wurde das Geld für ein Zugticket verweigert. Nach Treffen mit mir wurde sie von Mutter und kleiner Schwester als Verräterin beschimpft.”