Wenn es um partnerschaftliche Gewalt geht, ist die öffentliche Wahrnehmung meist auf Frauen gerichtet. Doch auch Männer werden Opfer von Gewalt in Ehe und Partnerschaft. Wie eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) von 2023 belegt, erlitt jeder zweite Mann (54,1 Prozent) im Laufe seines Lebens partnerschaftliche Gewalt.
Rund 39 Prozent berichten von psychischer Gewalt, 29 Prozent von körperlicher. Männer sind somit nicht nur Täter, sondern auch Opfer. Darauf weist Christian Roesler, Paartherapeut und Professor für Klinische Psychologie an der Katholischen Hochschule Freiburg, hin. In seinem 2024 erschienenen Buch „Partnerschaftsgewalt und Geschlecht“ wertet der Wissenschaftler aktuelle deutsche und internationale Studien dazu aus, insgesamt mehrere hundert.
„Alle diese Studien zeigen, dass Gewalt in intimen Beziehungen nichts mit dem Geschlecht zu tun hat“, sagte Roesler dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die eigenen Bedürfnisse oder Interessen auch mit Gewalt umzusetzen, betreffe in gleichem Maße Männer wie Frauen. Gründe könnten eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit oder psychische Erkrankungen sein, erklärte der Psychologe. Bei 80 Prozent der betroffenen Paare handle es sich um „situative gegenseitige Gewalt“.
„Massive Emotionen, die nicht mehr unter Kontrolle zu halten sind, eskalieren vor allem dann, wenn ein Partner mit Trennung droht“, sagte Roesler. Die Gewalt gegen den Partner beginne in der Regel zunächst auf verbaler, psychischer Ebene, mit Abwertung oder Erpressung und eskaliere dann hin zu körperlichen Angriffen.
Gerade weil die Affekte in intimen Beziehungen so stark seien, könnten sie umschlagen in Hass und Gewalt, weiß Roesler. Frauen stehen Männern in der Heftigkeit der Verletzungen den Studien zufolge in nichts nach. Manche Studien zeigten sogar: „Die Verletzungen, die von Frauen zugefügt werden, sind schwerer, denn Frauen versuchen ihre körperliche Unterlegenheit mit Waffen auszugleichen, wie einer Flasche oder einem Stuhlbein.“
In einer älter werdenden Gesellschaft nimmt auch Gewalt gegenüber älteren, pflegebedürftigen Menschen zu. Auch hier sind Männer betroffen. „Gewalt in der Pflege geht oft mit einer totalen Überforderung und Einengungssituation einher“, sagte der Vorsitzende des Landesseniorenrates Baden-Württemberg, Eckart Hammer. Das Spektrum gewaltsamer Handlungen reiche vom Vorenthalten von Fürsorge, Medikamenten, Essen oder Trinken bis zu „hartem Anfassen“. „Auch Lügen gehört dazu“, betonte der Sozialpädagoge. „Oft wird eine lebenslange Bilanz in Form psychischer Gewalt abgearbeitet“, ist seine Erfahrung.
„Auch in besten Partnerschaften ist die Pflegesituation allein, ohne fremde Hilfe, gefährlich“, betont Hammer. Pflege sollte auf möglichst viele Schultern verteilt werden, „damit andere sehen, was passiert.“ Zu würdigen sei jedoch, dass immerhin ein Drittel aller häuslich pflegenden Personen männlichen Geschlechts seien, unter den über 80-Jährigen überwiege sogar der Männeranteil in der Pflege.
Zur Sprache oder gar zur Anzeige kommen gewaltsame Handlungen an Männern selten. Zu groß ist die Scham, die Angst vor Trennungen, weiteren Gewaltattacken oder – wenn Kinder da sind – sorgerechtlichen Konsequenzen. Entsprechend hoch ist die Dunkelziffer. Unterstützung finden Männer in Not über das bundesweite „Männerhilfetelefon“ und den „Weißen Ring“. Hilfe brauchen in der Regel jedoch beide: Täter und Opfer. Wie aus der Studie des KFN hervorgeht, sind gerade in intimen Beziehungen Täter und Opfer nicht eindeutig zu ermitteln.
Eine wirksame Hilfe für diejenigen Paare, die sich trotz Vorfällen von Gewalt nicht trennen wollen, könnte Paartherapie sein, sagte Roesler. „Es hat sich gezeigt, dass andere Interventionen, die auf Separierung angelegt sind, wie Platzverweise oder Frauenhäuser, zwar zunächst die Gewalt unterbrechen können, aber auf längere Sicht ineffektiv sind, teilweise das Rückfallrisiko sogar erhöhen.“ Demgegenüber habe sich Paartherapie als geeignet erwiesen, „den Rückfall in alte Muster, den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen.“
Von staatlicher Seite wünscht sich Roesler einen „unvoreingenommenen Blick auf die Faktenlage“ und fordert mehr männliche Mitarbeiter in Beratungsstellen, den Ausbau von Männerschutzwohnungen sowie die staatliche Förderung von Paartherapie. (2866/23.12.2024)