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Weiße Privilegien

Diskriminierung von „People of Color“ ist nach Ansicht von Christina Biere nicht nur ein individueller Akt, sondern ein System. Und deshalb muss Kirche sich damit beschäftigen.

Wenn es um das Thema Rassismus geht, dann geht es oft um Diskriminierung von People of Color oder um Prävention gegen Rechtsextremismus. Diese beiden Perspektiven hat auch die UK in den zurückliegenden Wochen in ihren Artikeln eingenommen. Mir kommt es dann beim Lesen so vor, als wäre ich nicht betroffen. Betroffen sind Andere, und wir als Kirche sind die Institution, die daran arbeitet, Rassismus zu beenden oder psychische Folgen bei den Anderen zu lindern. Genau diese Haltung ist beim Thema Rassismus aber ein Problem. Denn meine Privilegien als Weiße Frau in der Gesellschaft und als Weiße Pfarrerin in der Kirche sind Teil von Rassismus.

Rassismus ist in seiner wirksamsten Form kein individueller Akt, sondern ein System. Und solange ich nicht sehe, wie ich als Weißer Mensch von diesem System profitiere und beginne, meine Privilegien zu teilen, trage ich Verantwortung für das Fortbestehen dieses Systems. Sind Sie auch Weiß? Dann betrifft es Sie eventuell auch. Wenn Sie sich angesprochen fühlen, dann bin ich sehr daran interessiert, wie dieser Artikel auf Sie wirkt.

Weiße haben keine Rassismuserfahrungen

Bis hierher habe ich schon Begriffe verwendet, die für dieses Thema von Bedeutung sind: People of Color ist eine Selbstbezeichnung von Menschen, die Rassismuserfahrungen teilen. Weiße Menschen teilen diese Erfahrung nicht. Weiße Menschen teilen jedoch eine andere Erfahrungswirklichkeit, nämlich Privilegien aufgrund ihres Weißseins zu haben. Um diese Erfahrungswirklichkeit geht es mir. Weiß schreibe ich in diesem Artikel groß, um damit zu zeigen, dass es nicht um Hautfarbe geht, sondern um eine politische Bezeichnung.

Wenn ich am Bahngleis stehe und mir der Gedanke durch den Kopf geht „Hier sind aber viele Ausländerinnen und Ausländer unterwegs“ – meine innere Stimme also in Sekundenschnelle Menschen aufgrund ihres körperlichen Erscheinungsbildes zu Menschen macht, die anders sind als ich –, dann ist das Rassismus. Wenn ich analog oder digital in einen Besprechungsraum komme und mir als erstes auffällt, dass eine Person Nicht-Weiß ist – dann ist das Rassismus. Wenn ich ein Behandlungszimmer in einer Praxis betrete und beim Anblick der Ärztin mir als erstes die Frage stelle, „ob sie wohl auch in Afrika „eine gute Ausbildung gehabt hat“ – dann ist das Rassismus.

Die Beispiele sind nicht erfunden. Sie sind Teil meiner Realität. Wie Menschen aussehen, spielt für mein Denken und Verhalten eine Rolle – auch wenn ich wünschte, es wäre anders.

Durch viele Erfahrungen in meinem Leben habe ich gelernt, dass Weißsein die Norm ist. Zum Weißsein gehören Privilegien in der Gesellschaft, in der ich lebe und in der Kirche, zu der ich gehöre. Was alles zu diesen Privilegien gehört, wird mir erst nach und nach bewusst. Oft will ich es nicht wahrhaben. Dieser Prozess der Abwehr und des Leugnens wird von vielen Menschen beschrieben, die sich erstmals mit ihren Privilegien und ihrer Positionierung in Kirche und Gesellschaft beschäftigen.

Weißsein ist gesellschaftliche Norm

Peggy McIntosh veröffentlichte schon 1989 eine Liste mit ihren Weißen Privilegien. Meine Privilegien sehen heute ähnlich aus: Ich schaue Fernsehen oder lese Bücher und finde mich dort durch andere Weiße repräsentiert. Ich kann für mein Patenkind Kinderbücher kaufen, ohne dass alle abgebildeten Kinder Schwarz sind. Wenn ich Geschichtsunterricht habe, dann lerne ich über Weiße Menschen und ihre Errungenschaften. Wenn ich in die Kirche gehe, sehe ich auf Bildern oder Glasfenstern oder auch am Kreuz Menschen dargestellt, die Weiß sind. Wenn ich mich mit Entwicklungshilfe beschäftige, dann fällt es mir leicht, mich mit den Helfenden zu identifizieren, denn die Hilfsbedürftigen werden meistens als Schwarze Menschen dargestellt. Wenn ich gut singen oder tanzen kann, wird das nicht auf meine Ethnizität zurückgeführt. Wenn ich in der Kirche eine leitende Person oder Seelsorgerin anspreche, dann kann ich sicher sein, dass wir beide Weiß sind und beide den gleichen Erfahrungshorizont mitbringen.

All diese Erfahrungen führen nicht dazu, dass ich mir meines Weißseins bewusst werde. Im Gegenteil – mein Weißsein bleibt meistens unbenannt und Erfahrungen bestätigen mir unbewusst, dass Weißsein die Norm ist. Und immer, wenn es eine Norm gibt, hat das Andere die Funktion, die Norm zu bestätigen. In diesem System lernen wir schon als Kinder, Nicht-Weiße Menschen als die Anderen zu definieren.

Die armen Kinder in Afrika

„Die neue Mitschülerin kommt aus Polen? Habt ihr denn überhaupt keine Deutschen mehr in eurer Klasse?“ Dieser Satz meiner Eltern ist mir in sehr guter Erinnerung. „Du kannst ja ruhig jemanden aus dem Ausland heiraten, aber bitte keinen Schwarzen!“ Ich schreibe diese Sätze aus meiner Biographie hier nicht leichtfertig auf. Sie tun meiner Seele nicht gut. Und Ihnen als Leserinnen und Leser wahrscheinlich auch nicht, weil Sie sich eventuell an ähnliche Sätze aus Ihrer Kindheit erinnern. „Die armen schwarzen Kinder, die nach dem Krieg geboren wurden…“, ist auch so ein Satz, genau wie „Iss dein Essen auf, die armen Kinder in Afrika hungern“. Das, was die Seele betrifft, betrifft auch meine Spiritualität. Und spätestens hier wird die geistliche Dimension des Rassismus, der Weißen Privilegien deutlich.

Dies sind nur einige Sätze aus meinen Kindheitserinnerungen. Dann kamen noch Sätze von Lehrerinnen und Lehrern, aus Schulbüchern, aus Filmen, von berühmten Theologinnen und Theologen aus der Kirchengeschichte, von Professorinnen und Professoren und viele Sätze aus der Bibel hinzu. Ja, auch die Bibel ist nicht frei von Rassismus, genauso wenig wie von Antisemitismus. Die Sätze aus meiner „spirituellen Biographie“, wenn ich sie mit der „Brille der Ethnizität“ (race) lese, wirken bis heute nach (vgl. dazu das Material der United Church of Christ).

Und es sind auch oft meine eigenen Sätze, die so in mir nachklingen. Sätze, die ich über meinen Freiwilligendienst in Südafrika gesprochen habe oder über ein Land, das ich nur besucht habe. Auch Worte, die ich in meiner Funktion als Pfarrerin für Ökumene sage, wenn ich von „Migrationskirchen“, „Gemeinden anderer Sprache“ oder „Flüchtlingshilfe“ spreche, machen Menschen zu Anderen und mich zur Norm. Sie können als disqualifizierend, vereinnahmend, verletzend oder ausgrenzend empfunden werden.

Wir partizipieren von dem weißen System

Und nun? Rassismuskritische Trainerinnen und Trainer wie Tupoka Ogette geben Tipps für einen rassismuskritischen Alltag: Wissen aneignen, Verantwortung für Privilegien übernehmen, Zuhören und vor allem Feedback zu eigenem rassistischen Reden und Tun zulassen.

Und warum ist es für uns als Kirche wichtig, uns noch viel kritischer als bislang mit Weißen Privilegien zu beschäftigen? Wir wollen theologisch keine Unterschiede machen zwischen Menschen vor Gott, partizipieren aber alltäglich an einem System, in dem wir von diesen Unterschieden profitieren – das wirkt unglaubwürdig. Es wirkt besonders unglaubwürdig auf eine junge Generation, die sich vor allem in den sozialen Medien sehr intensiv mit diesen Fragen beschäftigt und nach geistlicher Gemeinschaft sucht, die rassismuskritisch spricht und lebt.