Kalt, windig, regnerisch – im Winter freut man sich besonders, nach Hause zu kommen. Doch über 50.000 Menschen hierzulande sind obdachlos, mehr als 600.000 ohne Wohnung. Eine von ihnen ist Melanie aus Bonn.
Vor einem Kaufhaus am Rand des bunt leuchtenden Weihnachtsmarkts in Bonn sitzt Melanie (46) mit ihrem Hund Filou auf einer dünnen Wolldecke und hofft auf Spenden. Dass sie einmal auf der Straße leben würde, damit hätte sie nie gerechnet. Inzwischen glaubt sie allerdings kaum noch daran, je wieder ein “normales” Leben führen zu können. Warum sie dennoch nicht in eine Schublade gesteckt werden will und was ihr hilft, die Hoffnung nicht aufzugeben – darüber spricht sie im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
KNA: Melanie, wieso sitzt Du hier am Rand des Weihnachtsmarkts?
Melanie: Ich lebe auf der Straße, und das ist teurer, als man denkt. Mit dem Bürgergeld kommt man da nicht über die Runden. Und mit dem Betteln überbrücke ich das.
KNA: Wieso lebst Du auf der Straße?
Melanie: Die letzte “Wohnung”, die ich hatte, war ein kleines Zimmerchen. Ich war die einzige Frau in einem Haus mit 25 Männern. Es gab für alle nur ein Badezimmer, und die haben mich da unter der Dusche belästigt und sogar gefilmt. Und der Vermieter hat mir danach gekündigt, statt sich für mich einzusetzen.
KNA: Es gibt ja viele Leute, die sagen, Bürgergeld-Empfänger sollen arbeiten …
Melanie: Ich würde ja gerne arbeiten. Aber wenn Du auf der Straße lebst, bekommst Du von der Gesellschaft sofort einen Stempel aufgedrückt: “Du kannst nichts, Du bist nichts, Du bist unsauber, unpünktlich und Du musst ja suchtkrank sein.” Nein! Nicht jeder Mensch auf der Straße ist ein Junkie oder Alkoholiker.
Davon abgesehen bin ich der Meinung, in Deutschland hat fast jeder ein Suchtproblem. Ob das nun Alkohol ist, Zigaretten, Zucker, Drogen, Autos. Nur – das eine ist legal, das andere illegal.
KNA: Zurück zur Job-Frage …
Melanie: Ich kann mich nirgends waschen, ich müsste mein ganzes Gepäck, meinen “Hausstand” mitbringen. Die Leute machen da nicht mit, die glauben nicht, dass ich das schaffen würde. Stell Dir vor: Zwei Menschen bewerben sich auf eine Arbeitsstelle. Der eine hat nur eine postalische, der andere eine Melde-Adresse. Wem gibst Du eher die Arbeit?
KNA: Was würdest Du denn gerne arbeiten?
Melanie: Ganz egal – ich würde jede Arbeit machen. Ich bewerbe mich auf alles, was ich sehe. Ich war sogar schon hier gegenüber im Zeitschriftenladen.
KNA: Hattest Du als Jugendliche Träume, was Du werden willst?
Melanie: Ja! Ich wollte Tierpflegerin werden oder Bestatterin – auch mal Pfarrerin. Ich habe eine Ausbildung als Friseurin gemacht, 13 Jahre habe ich bei einem Schuh-Hersteller gearbeitet und dann eine Umschulung zur Bäckereifachverkäuferin gemacht. Nachdem ich da fünf Jahre gearbeitet habe, wurden wir alle durch Mitarbeiter einer Leihfirma ersetzt, weil das günstiger war. Irgendwie hat mir das den Rest gegeben.
KNA: Wann war das?
Melanie: 2018. Kurz danach war ich auf der Straße, denn ich konnte die Wohnung nicht mehr bezahlen. Meine Tochter war damals noch Jugendliche – die konnte ich bei ihrer Großmutter unterbringen. Knapp ein Jahr lebe ich jetzt wieder auf der Straße. Klar, ich bewerbe mich immer noch auf Wohnungen oder Stellen – aber mittlerweile habe ich die Hoffnung aufgegeben, es irgendwann mal wieder in ein “normales” Leben zurückzuschaffen. Ich würde mich unglaublich freuen, aber Badezimmer teilen? Auf keinen Fall. (Pause) Und wegziehen aus Bonn werde ich auch auf keinen Fall, denn meine Tochter ist kurz vor Ostern gestorben – sie liegt hier in Bonn auf dem Friedhof.
KNA: Hast Du das Gefühl, dass Du etwas falsch gemacht hast?
Melanie: Nein. (Pause) Keiner kann sagen “das passiert mir nicht”. Ich hatte da auch nie mit gerechnet. Ich kannte das auch nur aus dem Fernsehen.
KNA: Wird es schwerer, je älter man wird?
Melanie: Ja.
KNA: Jetzt ist Weihnachtsmarkt, da sind die Menschen vielleicht spendabler. Aber bald kommt der Januar – ist das die schlimmste Zeit auf der Straße?
Melanie: Für mich persönlich nicht, für mich sind es die Sommermonate.
KNA: Warum?
Melanie: Im Sommer kümmern sich die Menschen viel mehr um sich selbst, geben das Kleingeld lieber selbst für Eis oder kalte Getränke aus. Bei Sonnenschein spielt Mitleid kaum eine Rolle. Und wir Obdachlosen trinken in der Hitze auch viel zu wenig, gerade wir Frauen – denn es gibt viel zu wenig öffentliche Toiletten. Wir kippen reihenweise um – und kaum jemand kümmert sich darum.
Im Winter denken alle “ach, denen ist sicher kalt” und geben viel eher ein paar Münzen. Man will vor Weihnachten ja auch mal was Gutes tun. Im Winter dürfen wir auch drinnen in den U-Bahn-Stationen schlafen, es muss also keiner erfrieren. Im Sommer ist es schwierig, einen sicheren Platz zu finden.
Melanie: Die kommen jeden Abend auf einen Snack vorbei. (lächelt)
KNA: Du kennst viele hier, oder?
Melanie: Die meisten, ja. Viele Menschen kommen hier regelmäßig vorbei. Da entstehen auch Bekanntschaften. Man kann mich ja ansprechen, ich beiße nicht und bin nicht ansteckend. Aber die meisten schauen eigentlich durch mich durch.
KNA: Wie findest Du das eigentlich, wie Du wahrgenommen wirst, von “uns”, von der Gesellschaft?
Melanie: Dieses Schubladendenken. Dieses so zu tun, als wüsste man, warum jemand bettelt. Anstatt mal so mutig zu sein und zu fragen, wieso ich hier sitze. Wir sind doch alle in der Lage zu Gesprächen.
KNA: Hast Du Wünsche zu Weihnachten?
Melanie: Generell, dass die Menschen mehr aufeinander achten.
KNA: Und für Dich persönlich?
Melanie: Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass ich es doch noch einmal zurück in eine Wohnung schaffe.