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Was Gottes Wort aufdeckt

Über den Predigttext Hebräer 4,12-13

Predigttext
12 Ja, Gottes Wort ist lebendig und kräftig und schärfer – wirksamer als jedes zweischneidige Schwert. Gottes Wort dringt durch Seele und Geist, geht durch Mark und Bein. Es richtet über Gedanken und Pläne des Herzens. 13 Vor Gott ist kein Geschöpf unsichtbar; unverhüllt und ungeschützt liegt alles vor Gottes Augen; bei Gott stehen wir im Wort.
Kirchentagsübersetzung 2007

Lebendig und kräftig und schärfer“ lautete 2007 das Motto des Kirchentages in Köln. Es war mutig, ein solches Bibelwort öffentlich auszurufen. Das Wort Gottes für die Welt, lebendig, kräftig, schärfer. Mutig, weil das Motto eines Kirchentages zunächst und zuerst für Christenmenschen selbst und für die Kirchen in der Welt gilt. „Lebendig“ steht da zuerst, Leben schaffend. Im Anfang war das Wort. „Und Gott sprach“ – und es ward Leben, auf der ganzen bewohnten Erde. Das ist der Rahmen, unter dem alles steht: Gott will Leben, für alle.

Treffend nennen wir es, wenn menschliche Rede auf den Punkt kommt. Dann herrscht Klarheit, meistens jedenfalls. Aber das Wort Gottes dringt tiefer, in Mark und Bein. Dort, im Inneren meiner selbst, entscheidet sich, wer ich bin oder sein werde, ob ich Wichtiges vom Unwichtigen unterscheiden kann, dort entscheidet sich, was wird.

Worte können eine ganze Welt öffnen

Wir wissen, was Worte mit uns machen können: „Ich liebe dich“– der Satz öffnet eine ganze Welt, nicht nur den Liebenden. Martin Luther Kings Worte aus seiner letzten Rede: „I have a dream“ (Ich habe einen Traum) prägen bis heute die Debatte um Freiheit und Rassismus, nicht nur in Amerika. Ähnlich weist uns Rosa Luxemburgs Satz: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ den Weg.

Wir wissen aber auch, was Worte unter uns anrichten können. Ein falsches Wort, zur falschen Zeit gesagt, ist nicht mehr rückgängig zu machen. Eine Entschuldigung mag die Folgen abmildern, es ist dennoch in der Welt. Böse Worte beenden Beziehungen und zerstören Vertrauen auf lange Sicht, wenn nicht für immer. Selbst gesellschaftlich: Eine allgemeine Impfpflicht kategorisch auszuschließen, war schlicht verantwortungslos. Wir sehen es an den Folgen.

Das Wort aus dem Munde Gottes aber kann und will mehr: Es richtet über uns alle. Denn es deckt auf, was wir lieber verborgen halten. Nicht in dem (sehr üblen) Sinne von: „der liebe Gott sieht alles“, sondern kräftiger – und schärfer.

Es deckt nicht nur die Harmlosigkeit so mancher Sonntagsreden auf; es zielt auf uns selbst: „Mensch, wo bist du?“ Warum verbirgst du dich, verschwendest so viel Energie, um von deinen Fehlern abzulenken; gehst dir ständig selbst aus dem Weg und so nicht nur anderen, sondern auch dir selbst auf den Wecker? Warum machst du dir selbst etwas vor, willst sein, der oder die du nie bist und nie sein wirst?

Diese offene Flanke, in der Lutherbibel heißt es sogar Nacktheit, bei sich selbst zu sehen, ist schwer zu ertragen. Sie deckt auf, was wir längst vergessen haben: Die Gebote, die Gleichnisse, die Bilder des Reiches Gottes – alles für unser Menschsein gedacht und gesagt. Wo bist du, Mensch? Du weißt das doch alles! Warum gehst du so leichtfertig und beständig dagegen an, bewusst und unbewusst, lenkst von deinem Versagen ab?

Das Tröstliche bleibt mitten in der Erkenntnis und auch dem Schrecken: Gott richtet, er, der aufdeckt, er richtet zugleich. Direkt auf unser Bibelwort folgt: Der Hohepriester, der hier für uns spricht, ist niemand anderes als der barmherzige Christus, der Messias, der das Leben kennt. Er hat es selbst erlebt und durchlebt.

Dieses Leben stellt uns auf einmal Fragen: Wann hast du das letzte Mal aus tiefstem Herzen gelacht, geweint, gebetet? Von innen heraus, als Mensch, der oder die du bist? Du brauchst doch gar keine Rolle zu spielen, weil du bei Gott längst die entscheidende Rolle spielst, so wie du bist, ungeschminkt und einzigartig.

Das Wort ist messerscharf. Es eignet sich nicht für ein noch so gutes Wohlfühlprogramm. In ihm sind Zorn und Liebe, Urteil und Gnade, in ihm! Die anderen Fragen bleiben, schon vor tausenden Jahren an Israel gestellt, bis heute: Wie könnt ihr Gottesdienste feiern und Kinder schänden? Schöne Liturgien und die Leute verrecken vor euren Augen? Wehe euch, wenn Geflüchtete keinen Raum bei euch finden, wenn ihr die Armen sich selbst überlasst. Das ist das Gesetz, dem Leben geschuldet und der Gemeinschaft. Lasst ihr das außen vor, betrügt ihr euch selbst.

Die Fragen bleiben, das Wort auch. Am Ende aber kommt es heraus: Ihr seid nicht verloren – ich bin da. Wo bist du, Mensch? Ich hole dich aus deinem Versteck. Denn ich bin da, mit meinem Wort. Das ist verlässlich. Gnade und Neubeginn trotz allem. Durch Menschenwort an euch gerichtet und doch viel mehr. Vielleicht im Sinne von: „Ich liebe dich“. Es verändert alles und öffnet eine ganze Welt.