Der Jurist Daniel Röder hat die pro-europäische Bürgerbewegung „Pulse of Europe“ (deutsch: „Europas Puls“) gegründet. Sein Ziel ist, die Menschen angesichts nationalistischer und rechtspopulistischer Bewegungen wachzurütteln. Denn nichts von dem, was die Europäische Union ausmache, sei selbstverständlich, sagte Röder im Gespräch mit Norbert Demuth in Frankfurt: weder die Freiheit noch der Frieden.
• Herr Röder, Ihr Motto bei den bundes- und europaweiten „Pulse of Europe“-Kundgebungen lautet: „Frieden ist kein Naturgesetz“. Sind die Deutschen und Europäer zu leichtfertig geworden?
Wir leben in Westeuropa seit dem Zweiten Weltkrieg in Frieden. Es ist ausgesprochen schwierig, sich zu vergegenwärtigen, dass das in Europa ein historischer Ausnahmezustand ist. Für die meisten Zeitgenossen waren Demokratie und Frieden zeitlebens immer da. Wie soll man sich ohne Kriegs- und Diktaturerfahrung im Wohlstand klarmachen, was das heißt? Wie soll man verstehen, dass Frieden kein Naturgesetz ist und Freiheit nicht auf Bäumen wächst? Wir haben uns an die angenehmen Lebensumstände gewöhnt und glauben, das gehe immer so weiter. Wir wollen mit unserer Kampagne klarmachen, dass es von uns abhängt, wie es weitergeht. Dass wir nichts für selbstverständlich halten dürfen.
• Sind Sie zufrieden mit der Zahl der Teilnehmer, die bei sonntäglichen „Pulse of Europe“-Kundgebungen in deutschen und europäischen Städten zusammenkommen?
Bei dieser Frage bin ich sehr ambivalent: Einerseits kommen seit mittlerweile zweieinhalb Jahren sehr viele Menschen ganz regelmäßig und immer wieder. Das nötigt mir Respekt ab und freut mich. Andererseits könnten es natürlich viel mehr sein. Was mich vor allem immer wieder schockiert, ist die Ignoranz großer Teile der Gutgestellten und Akademiker. Viele sind noch immer auf dem reinen Selbstoptimierungstrip. Sie sehen nicht, was die Stunde geschlagen hat oder verschließen die Augen davor. Bedeutungsschwangere Worte beim Rotwein reichen aber nicht mehr. Wir befinden uns inmitten eines rasanten globalen Transformationsprozesses, den wir gestalten müssen. Dafür braucht es jeden und jede.
• Nach der Europawahl soll eine große Nationalistenfraktion im EU-Parlament entstehen. Verschärft diese Entwicklung die Probleme für ein demokratisches Europa?
Ja, das tut sie. Europaskeptiker und Nationalisten waren über lange Zeit zersplittert und sind es im Europaparlament noch immer. Die AfD hat es wie andere nationalistische Parteien in Europa geschafft, Splittergruppen zu bündeln. Den Versuch eines Schulterschlusses der „internationalen Rechtsnationalisten“ gibt es jetzt auch auf europäischer Ebene. Die gute Nachricht ist, dass die Feinde Europas und der Demokratie noch in der Minderheit sind. Entscheidend wird sein, wann die Demokratinnen und Demokraten aus der Mitte der Gesellschaft endlich aufwachen.
• Ist die Politik in Europa überhaupt noch berechenbar – siehe Brexit-Debatte – oder zeigt die Demokratie nicht auch Schwächen, die Rechtspopulisten mit ihrer Propaganda geschickt ausnutzen können?
Der Brexit ist ein gutes Beispiel für das Versagen der etablierten Parteien. Der ehemalige britische Premierminister David Cameron hat überhaupt nicht erkannt, was er da tut. Wie kann man ein in direkter Demokratie ungeübtes Volk über eine derart komplexe Frage wie die Mitgliedschaft in der EU mit einer „Ja/Nein-Antwort“ abstimmen lassen? Dann auch noch ohne qualifizierte Mehrheit! Dabei hat er tatsächlich angenommen, persönlich gestärkt aus der Abstimmung hervorzugehen. Das ist persönliche Hybris und politische Fehleinschätzung gleichermaßen. Ja, die Rechtspopulisten agieren sehr geschickt mit ihren einfachen Botschaften und machen sich die Filterblasen in den Sozialen Medien in einer Weise zunutze, die die etablierten Parteien vollkommen durcheinanderwirbelt. Hier muss ganz schnell gelernt werden.
• Sie sagen selbst, die Prognosen für die Zukunft seien „düster bis tiefschwarz“. Wie schwer wird es sein, die „Lethargie der Demokraten“ zu überwinden?
Diese Aussage basiert darauf, dass die vorhandenen Ängste und die sich rasant ausbreitende Wut und Aggressionen vieler derzeit überwiegend negativ kanalisiert werden. Wir müssen das zum Positiven wenden und uns dem Orkan der Zerstörung entziehen, indem wir positive Sogwirkung entfalten. Da dürfen wir nicht in der spätrömischen Dekadenz verharren und unserer Biedermeiergemütlichkeit frönen. Als Optimist glaube ich daran, dass uns das gelingen kann.