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Warum körperliche Nähe auch in höherem Alter wichtig ist

Das Bedürfnis nach Sexualität hört in einem bestimmten Alter nicht einfach auf. Fachleute werben für eine Enttabuisierung – und eine Beachtung von veränderten Bedürfnissen in der zweiten Lebenshälfte.

Sexualität und körperliche Nähe im Alter: Neues entdecken statt totalem Rückzug
Sexualität und körperliche Nähe im Alter: Neues entdecken statt totalem RückzugImago / Pond5 Images

Sexualität im Alter ist immer noch ein Tabu. Der vermeintlich perfekte Traumkörper ist jung und gesund. Dabei haben viele Menschen bis ins hohe Alter noch ein Bedürfnis nach körperlicher Nähe: Eine Studie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zeigt, dass im Alter zwischen 66 und 75 Jahren noch 26 Prozent der Frauen und 51 Prozent der Männer sexuell aktiv sind. Ein Zusammenhang zwischen dem Alter und der sexuellen Zufriedenheit ließ sich nicht nachweisen.

Experten beobachten, dass ein verändertes Sexualleben oft eher etwas mit veränderten Lebensumständen zu tun hat: “Ältere Menschen sind häufiger allein und haben sich oft sogar daran gewöhnt. Neue intime Beziehungen aufzubauen, dauert im Alter zudem oft länger”, sagt Herbert Mück, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Köln. “Andere fühlten sich für Sex bereits zu alt.”

Körperliche Veränderungen spielten eine Rolle

Männer wie auch Frauen litten im Alter häufiger an Erkrankungen, zum Beispiel Parkinson oder Demenz. “Beispielsweise Rheuma und Arthrose schmerzen und beeinflussen die Beweglichkeit”, sagt Mück. “Diabetes beeinträchtigt die Nervenempfindlichkeit.”

Frauen können ab 40 Jahren außerdem in die Menopause kommen. Für viele ist Geschlechtsverkehr dadurch eher unangenehm oder sogar schmerzhaft. Bei Männern treten mit zunehmendem Alter häufiger Erektionsstörungen auf. Symptome wie Impotenz und Inkontinenz sind dazu noch schambehaftet. Auch schwere Erkrankungen können eine Rolle spielen. Mück: “Bei Frauen führt eine Brustentfernung aufgrund einer Krebsbehandlung oft zu Selbstzweifeln. Sie fragen sich: ‘Bin ich noch attraktiv?'”

Werbung und Pornografie suggerieren, dass die körperliche Anziehung von Alter und Gesundheit abhänge. Sie vermitteln außerdem ein einseitiges Bild von Sex: “Nach den Vorstellungen unserer Gesellschaft ist Sexualität oft gleichbedeutend mit dem Koitus”, sagt Mück. “Erlebnismöglichkeiten wie Berührungen oder Selbstbefriedigung werden deshalb oft noch nicht als gleichgewichtige Formen der Sexualität angesehen.”

Sexualität fängt schon im Kopf an

Das Gehirn erzeugt entsprechende Fantasien – selbst dann, wenn äußere Reize fehlen. Bei Lustempfinden schüttet es Endorphine aus. Höhere Testosteronwerte steigern laut Forschung die Libido, bei Männern wie Frauen. “Unser mächtigstes Sexualorgan ist das Gehirn, unser größtes die Haut”, erläutert Mück. “Ältere Menschen sollten sie bei sexuellen Begegnungen deshalb mehr in deren lusthemmenden beziehungsweise lustfördernden Einflüssen berücksichtigen.”

Hinzu kommt, dass Paare oft Schwierigkeiten haben, über ihre Sexualität zu sprechen. “Bei manchen führt das zu einem Totalrückzug”, sagt Claudia Prinz, Paar- und Sexualberaterin der Ehe- Familien und Lebensberatung der Katholischen Kirche im Bistum Münster. Aus Angst, vielleicht “nein” sagen zu müssen, vermeiden Betroffene dann nicht selten jeglichen Körperkontakt mit dem anderen.

Bei Paaren führt mangelnde Kommunikation oft zu Verunsicherung

Warum hat mein Partner keine Lust? Warum werde ich zurückgewiesen? Viele Paare setzten sich laut Prinz erst im Alter bewusster mit der eigenen Sexualität auseinander. Auch Gedanken zum Lebenssinn in der zweiten Lebenshälfte spielten dabei eine Rolle. Eine Trennung habe sie in dem Prozess bislang aber nicht erlebt, sagt die Beraterin: “Die Paare lernen eher, einander besser zu verstehen.” Die Beziehung kann dann sogar gefestigt werden.

Prinz rät Paaren deshalb dazu, offen zu kommunizieren und sich einander mit den eigenen Unsicherheiten anzuvertrauen. Dazu gehören auch veränderte sexuelle Bedürfnisse. “Ältere Menschen vergleichen ihre eigene Sexualität oft mit früher”, sagt sie. Und: “Sexualität ist aber mehr als Genitalität. Das zu verstehen, hilft enorm.” Einige Paare einigten sich auf “eine andere Form der Körperlichkeit, sie kuscheln und berühren sich viel”.

Manche genießen ihre Sexualität im Alter sogar mehr als in jüngeren Jahren. “Einzelne Frauen entdecken den Orgasmus erst mit 50 Jahren oder später”, sagt Mück. “Sie können im Alter ihre Sexualität also noch einmal neu entdecken.”