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Wahrhaft eine „Große Seele“

Seine Strategie des gewaltlosen Widerstands ist auch heute noch für viele Menschen vorbildlich. Doch er machte sich nicht nur Freunde. Vor 70 Jahren wurde Mahatma Gandhi von einem Hindu-Fanatiker erschossen

Der Vorname des indischen Widerstandskämpfers Gandhi? Fast jeder würde auf „Mahatma“ tippen. Dabei ist dies der hinduistische Ehrentitel „Große Seele“, die ihm 1915 der indische Dichter Rabindranath Tagore verliehen hat. Weit weniger schmeichelnde Umschreibungen fanden andere Zeitgenossen wie der britische Premierminister Winston Churchill, der Gandhi als „aufrührerischen, nackten Fakir“ bezeichnete. Mohandas Karamchand Gandhi war die Leitfigur der indischen Unabhängigkeitsbewegung gegen die britische Kolonialverwaltung.

Vom Waffengebrauch hielt der unscheinbare Inder mit dem einfachen Lendentuch nichts – in seinen sanften Augen waren sie ein „Symbol der Hilflosigkeit“. Stattdessen begegnete der zutiefst gläubige Hindu den Besatzern im Geist der Liebe und der Gewaltlosigkeit. Mit Erfolg: 1914 wurden die bisher diskriminierten indischen Einwanderer in Südafrika gleichberechtigte Staatsbürger, 1947 wurde Indien unabhängig.

Ein „aufrührerischer, nackter Fakir“

Dabei deutet im Leben des am 2. Oktober 1869 geborenen Gandhi zunächst nichts auf seine außergewöhnlichen politischen Fähigkeiten hin. Aufgewachsen in einem frommen Elternhaus spricht den jungen Gandhi besonders der Jainismus mit seinen Geboten der Gewaltlosigkeit und der Achtung aller Lebewesen an. Als junger Mann liest er das indische Weisheitsbuch, die Bhagavadgita, und die Bibel mit der Bergpredigt. In der Schule ist Gandhi, der später aus dem Stegreif wichtige Reden halten wird, furchtbar schüchtern. Auch als Rechtsanwalt scheitert er deshalb; seine Anwaltspraxis muss er aufgeben.

1893 geht er als Rechtsbeistand einer indischen Firma nach Südafrika. Gandhi entdeckt die eigentliche Aufgabe des Anwalts, streitende Parteien wieder zusammenzubringen, und avanciert zum Fürsprecher der unterdrückten indischen Einwanderer in Südafrika. Er studiert dort unter anderem den Hinduismus und Henry David Thoreaus Buch „Ziviler Ungehorsam“. 1914 erlebt er in Afrika durch zähe Beharrlichkeit seinen bislang größten politischen Erfolg: Die diskriminierenden Gesetze gegen die Inder werden aufgehoben, sie sind nun gleichberechtigte Staatsbürger.

Die Verhältnisse in Indien führen dazu, dass Gandhi auch in seiner Heimat politisch aktiv wird. Dort strebt er die Gleichstellung der Inder im britischen Weltreich an. Gandhi führt – mit einer eigenen Mischung von demütiger Sanftheit, unbeugsamer Entschlossenheit und klarer politischer Logik – die Widerstandsbewegung gegen die Briten mit immer breiterer Unterstützung der Inder an.

Die britische Regierung stand der friedlichen Revolution völlig ratlos gegenüber, selbst Masseninhaftierungen blieben wirkungslos. „Man kann nicht immerfort einsperren und einsperren, besonders wenn man es mit einem Volk von 319 Millionen zu tun hat“, bemerkte ein hoher englischer Beamter zu dem gewaltlosen Protest. 1930 führte Gandhi den Salzmarsch an, bei dem die Inder den freien Zugang zum Meer forderten, um dort selbst Salz gewinnen zu können. Als zahlreiche Inder versuchten, die Darshana-Salzbergwerke zu betreten, knüppelten die Briten die friedlichen Demonstranten nieder – vor den Augen der Weltpresse. Großbritannien verlor sein Gesicht.

Ende des Zweiten Weltkriegs war Englands Position geschwächt, am 15. August 1947 wurde Indien unabhängig – allerdings als geteiltes Land: Fünf Millionen Sikhs und Hindus mussten nach Erlangung der Unabhängigkeit die pakistanische Hälfte des Pandschab verlassen, über fünf Millionen Moslems befanden sich noch in der indischen Hälfte. Bei der einsetzenden Fluchtbewegung fielen Hindus und Muslime übereinander her. Gandhi, der „Vater der indischen Nation“, war zutiefst deprimiert über den Blutzoll bei der Erlangung der Unabhängigkeit Indiens und sein persönliches Scheitern.

Unabhängig – als geteiltes Land

Sein langjähriger Kampf als Hindu für die Rechte der Moslems und seine Offenheit gegenüber anderen Religionen wurden ihm schließlich zum Verhängnis: Am 30. Januar 1948 wurde der „Apostel der Gewaltlosigkeit“ 78-jährig vom fanatischen Anhänger einer nationalistischen Hinduorganisation erschossen.

Auch 70 Jahre nach dem tödlichen Attentat geht von Gandhi eine ungebrochene Faszination aus, noch immer gilt er als moderner Heiliger. Er vereinte in sich eine so große Menschlichkeit und viele gute Eigenschaften, dass Albert Einstein über ihn sagte: „Künftige Generationen werden es vielleicht kaum glaubhaft finden, dass ein Mensch wie dieser jemals in Fleisch und Blut auf dieser Erde einherwandelte.“