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Vor 80 Jahren ging die “Wilhelm Gustloff” unter – Tausende Tote

Im letzten Kriegswinter 1945 starben Abertausende bei dem Versuch, aus dem umkämpften Ostpreußen Richtung Westen zu fliehen. Speziell ein Ereignis wurde zur Chiffre für die Schrecken der Flucht über die Ostsee.

Eisige Temperaturen, Beschuss durch sowjetische Tiefflieger, dazu immer wieder Kontrollen durch SS und Militärpolizei auf der Suche nach Kämpfern für den Volkssturm, das letzte Aufgebot des untergehenden NS-Regimes. Es waren apokalyptische Zustände, die jene Menschen erlebten, die vor 80 Jahren, in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, aus Ostpreußen vor der Roten Armee nach Westen fliehen wollten. An der Ostseeküste zwischen Danzig und Königsberg spielten sich dramatische Szenen ab.

Ab Ende Januar 1945 blieben nur noch zwei Optionen offen, “die beide außerordentlich gefährlich waren”, schreibt der britische Historiker Ian Kershaw. Zum einen war dies der Weg über das zugefrorene Frische Haff auf die vorgelagerte Landzunge und von dort weiter Richtung Danzig. Die andere Alternative: die Flucht mit dem Schiff.

Eines dieser Schiffe war die in Gdynia, damals Gotenhafen, ankernde “Wilhelm Gustloff”. Die seinerzeit 17-jährige Erika Voigt ging mit Mutter und Schwester bereits um den 20. Januar herum an Bord. Ihr Vater, ein Marineoffizier, gehörte zu einem Kommando, das die “Gustloff” bis dahin als Wohnschiff genutzt hatte. In den darauffolgenden Tagen half sie mit, die in Scharen strömenden Neuankömmlinge zu registrieren. In der Nacht vom 29. auf den 30. Januar glich die junge Frau ihre Liste ab und zählte 4.700 Personen – auf einem Schiff, das offiziell für knapp 1.500 Passagiere ausgelegt war.

“Wann fahren wir endlich?”, lautete die bange Frage. Am 30. Januar war es soweit. “Kurz nach 12 Uhr bewegte sich endlich die ‘Gustloff’ – gezogen von zwei Schleppdampfern – aus dem Hafenbecken”, so Voigt. Mit ihrer Schwester ging sie Richtung Sonnendeck. “Als ich hinaus aufs Deck trat, auf welchem Glatteis war, sah ich zu meinem Entsetzen, dass die Rettungsboote völlig vereist waren. ‘Warum sind sie nicht klargemacht worden?’, fragte ich mich – aber diese Gedanken waren bald verflogen, als ich weiter zum Bug ging und mir die Ausfahrt ansah.” Stürmisch und bitterkalt war es, die Temperaturen lagen bei minus 20 Grad.

Erika Voigt und ihren Mitreisenden wussten, dass die Überfahrt zum Wagnis werden würde. Wie andere Passagiere auch, trug sie möglichst viele Kleidungsschichten übereinander, “da im Falle eines Unterganges die Kleidung ein wenig die Kälte abhält”. Um 21 Uhr legte sie sich schlafen. Kurz darauf erschütterten drei Detonationen das Schiff, Torpedos, die ein sowjetisches U-Boot auf die “Gustloff” gefeuert hatte. “Ich wurde an die Wand gedrückt, das Licht ging aus und das ganze Schiff bekam mit einem Ruck Schlagseite nach Backbord hin.”

Panisch versuchten die Menschen, auf Deck zu gelangen. “Jeder wollte zuerst hoch und so kam es, dass schon viele Kinder hier unten erdrückt wurden”, schilderte Voigt. Ihr einziger Gedanke: “Nur raus aus dieser Hölle.” Weiter oben angelangt, drängten sich die Menschen an den Rettungsbooten. Die junge Frau war im Zentrum des Horrors angelangt. Die Schiffssirenen tönten dumpf, Verzweifelte schrien, das Wasser kam nun von überall her.

Eine Mutter drückte Erika Voigt ihren etwa zweijährigen Sohn in den Arm. Zusammen mit dem Kind sprang sie wenig später in die eiskalte Ostsee. “Noch einmal – unwillkürlich – schaute ich über die jetzt waagerecht liegende ‘Gustloff’ hinweg, ‘da’ – der Schornstein versank in den Fluten und schon brausten die Wellen über mich hinweg und durch den Sog wurde ich mit dem Schiff in die Tiefe gerissen.” Mit größter Mühe kämpfte sie sich wieder nach oben. “Das Kind hatte ich noch im Arm, aber es gab kein Lebenszeichen mehr von sich, matt hing das Köpfchen herunter.”

Gerettet wurde Erika Voigt schließlich von einem deutschen Torpedoboot, das sie nach Sassnitz auf Rügen brachte. Dort nahm sie dann ein dänisches Schiff auf. “Erst vier Woche später bekam ich die Nachricht, dass meine Schwester lebt. Von meinen Eltern habe ich nie wieder etwas gehört.” Der Bericht von Erika Voigt findet sich im Archiv von Heinz Schön (1926-2013), der wie Voigt den Untergang überlebte und zeit seines Lebens nach Zeugnissen der letzten Fahrt der “Gustloff” fahndete. Der 33 Aktenmeter umfassende Bestand lagert heute im Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin.

Die Katastrophe habe sich zu einem Erinnerungsort für die Schrecken der Flucht über die Ostsee entwickelt – allerdings erst mit einer gewissen Verzögerung, sagt der Bereichsleiter für Dokumentation und Forschung des Dokumentationszentrums, Nils Köhler, der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). “Die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik und der Kinofilm ‘Nacht fiel über Gotenhafen’ aus dem Jahr 1960, der die Fahrt der ‘Gustloff’ thematisierte, haben dieses Bild verfestigt.”

Nach Angaben von Ian Kershaw gelang fast 680.000 Menschen die Flucht aus den Ostseehäfen, fast eine halbe Million schafften es über das zugefrorene Haff. Heute mag der Untergang der “Gustloff” verdeutlichen, welche Schrecken Kriege vor allem für die Zivilbevölkerung mit sich bringen. Vermutlich starben über 9.000 Menschen, nur 1.230 Passagiere überlebten eine der größten Katastrophen in der Geschichte der Seefahrt.