Ein Schloss, das es nie gab, und Dokumente, die es in sich hatten: Was Anfang Juni 1945 am Langen See in Berlin geschah, treibt bis heute Extremisten aus der “Reichsbürger”-Szene um.
Die Gedenktafel an der Niebergallstraße im Südosten von Berlin ist leicht zu übersehen. Etwas verloren steht sie da, zwischen prächtigen Villen und mehr oder weniger gelungenen Neubauten in unmittelbarer Nähe zum idyllisch gelegenen Langen See. Der Passant erfährt, dass an dieser Stelle am 5. Juni 1945 “die Deklaration über die Niederlage des faschistischen Deutschlands und die Übernahme der Regierungsgewalt durch die vier alliierten Staaten” unterzeichnet wurde. Was aber verbirgt sich dahinter?
Im wenige Kilometer entfernten Berlin-Karlshorst hatte Deutschland in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai auf Geheiß von Sowjetherrscher Josef Stalin zum zweiten Mal die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet – nachdem die erste Zeremonie bereits am 7. Mai im französischen Reims stattgefunden hatte. Gleichwohl gab es noch eine deutsche Regierung: in Flensburg, unter Großadmiral Karl Dönitz. Ihn und seine letzten rund 400 Getreuen verhaften die Briten am 23. Mai 1945. Wer soll nun das Sagen haben?
Das wollen die Alliierten in der “Berliner Erklärung” regeln, die sie am 5. Juni in einem Vorort von Köpenick unterzeichnen. “Es gibt in Deutschland keine zentrale Regierung oder Behörde, die fähig wäre, die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ordnung, für die Verwaltung des Landes und für die Ausführung der Forderungen der siegreichen Mächte zu übernehmen”, heißt es darin. Deswegen würden jetzt die Regierungen Großbritanniens, der USA, der Sowjetunion und Frankreichs “die oberste Regierungsgewalt in Deutschland” übernehmen. Eine Annexion Deutschlands sei damit allerdings nicht vollzogen.
Zwei weitere Dokumente sind an diesem Tag unterschriftsreif. Eines betrifft die Einrichtung eines Alliierten Kontrollrats. Dieser soll laut Historiker Manfred Görtemaker “auf der Grundlage des Prinzips der Einstimmigkeit über alle Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten entscheiden”. Ein drittes Dokument teilt Deutschland in Besatzungszonen und Berlin in vier Sektoren ein.
Zum ganz großen Wurf reicht es allerdings nicht. Es knirscht bereits zwischen den Verbündeten. Wesentliche Entscheidungen über das Schicksal Deutschlands werden daher in eine “nicht näher bestimmte Zukunft” verschoben, so Görtemaker. Praktische Fragen haben demnach Vorrang, etwa “Bestimmungen über den Verbleib von Waffen” oder “die Freilassung aller Kriegsgefangenen”.
Zur feierlichen Unterzeichnung der Papiere hat der sowjetische Oberbefehlshaber Marschall Georgi Schukow in sein Hauptquartier geladen. Es handelt sich um die ehemalige “Waldgaststätte Wendenschloß” am Langen See. Ein Schloss hat es dort nie gegeben – der Name des Ausflugslokals rührt offenbar her von einem frühen Marketing-Gag. An jenem 5. Juni 1945 ist der offizielle Part gegen 17.00 Uhr absolviert. Schukow scheint in Feierlaune, hebt das Wodka-Glas zum Toast und lädt zu einem Bankett. Eisenhower jedoch reist ab – ein Hinweis auf das zunehmend frostige Klima unter den Alliierten.
Der Kontrollrat wird Anfang 1948 de facto begraben, zwei deutsche Staaten entstehen im Jahr darauf. Trotzdem bleibt die “Berliner Erklärung” ein zählebiges Dokument. Mitte der 50er-Jahre beenden die “Pariser Verträge” für die Bundesrepublik den Besatzungsstatus durch die drei westlichen Alliierten. Diese behalten sich allerdings Rechte und Verantwortung für “Deutschland als Ganzes” vor, solange das Land geteilt bleibt und eine Friedensregelung mit allen vier Siegermächten fehlt. Die volle staatliche Souveränität erlangt Deutschland erst mit den Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 wieder.
Für manche extremistischen Reichsbürger sind diese Etappen zwischen 1945 und 1990 offenbar nur schwer zu begreifen. Die Szene behaupte gern, “dass die Alliierten der Bundesrepublik Deutschland niemals die volle Souveränität gewährt, sondern stets ihre Vormachtstellung als Besatzungsmächte beibehalten hätten”, so das Bundesamt für Verfassungsschutz. Von einem wie auch immer gearteten staatlichen Vakuum könne jedoch keine Rede sein, betonen die Verfassungsschützer. Das Bundesverfassungsgericht habe 1973 festgehalten, dass das Deutsche Reich nicht untergegangen und die Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich identisch sei – abgesehen von der räumlichen Ausdehnung, die das Gericht damals mit dem Begriff “teilidentisch” umschrieb.