Von Marion Gardei
Seit 85 Jahren rief in der Philipp-Melanchthon-Kapelle in Berlin-Rudow eine Glocke mit nationalsozialistischen Symbolen zum Gottesdienst. Ausgestattet mit Reichsadler und Hakenkreuz wurde sie 1935 gemeinsam mit der Kapelle eingeweiht. Wie konnte es zu dieser abscheulichen Verstrickung mit der Nazi-Ideologie kommen?
Begleitet von der EKBO hat sich die Dreieinigkeitskirchengemeinde auf einen langen, oft schmerzhaften, aber doch lohnenden Aufarbeitungsprozess begeben, um sich ihrer Geschichte in der Nazizeit zu stellen. Es war ein schwieriger Weg vom ersten Anruf beim damals amtierenden Gemeindepfarrer bis zum Abschluss der Forschungen in diesem Jahr. Kurz vor dem ersten Advent 2017 erhielt der Pfarrer die verstörende Mitteilung, dass in „seinem“ Kirchturm eine Glocke hänge, die mit Nazisymbolik belastet ist und dass diese ab sofort nicht mehr läuten dürfe.
Zukünftige Generationen sollen zurückblicken können
In diesem Sinne ist die Auseinandersetzung mit dem braunen Erbe der Dreieinigkeitsgemeinde ein gelungener Akt evangelischer Erinnerungsarbeit: In einem vom Gemeindekirchenrat eingesetzten Ausschuss beschäftigte sich die Gemeinde zum Beispiel mit der Frage, wer von dieser Glocke wusste, und warum dieses Wissen verschwiegen oder verdrängt wurde. Man kam zu dem Schluss, dass die Glocke zwar abgenommen, aber erhalten werden sollte, damit auch zukünftige Generationen davon lernen können, wie weit die Verquickung der Kirche mit nationalsozialistischen Ideologien gehen konnte.
Gleichzeitig wollte die Gemeinde sie nicht auf ihrem Gelände behalten, um keinen Anziehungsort für neue Nazis zu schaffen: Immerhin werden vor Ort in Neukölln regelmäßig Naziparolen an Häuserwände und Mauern gesprüht. Banner des Kirchkreises gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus wurden zerschnitten oder entwendet, Steine auf Fensterscheiben von Buchläden geworfen und PKWs in Brand gesetzt.
Recherche von neutraler Seite
Schnell wurde klar, dass die Gemeinde die Erforschung ihrer Geschichte in der Nazizeit in professionelle und neutrale Hände legen will. Sie engagierte die auf dem Gebiet des Kirchenbaus in der NS-Zeit profilierte Kunsthistorikerin Beate Rossié. Die Ergebnisse ihrer sorgfältigen Recherche sind nun in einer gerade erschienenen Publikation zusammengefasst. Sie analysierte Architektur und Baugeschichte der Philipp-Melanchthon-Kapelle sowie deren Glocken und ihre historischen Hintergründe.
Auch werden in diesem Zusammenhang Pfarrer Paul Zorn und die Gemeindeschwester Margarete Stirnatis noch einmal gewürdigt. Sie hatten in der Nazizeit mit ihrem christlich-sozialen Engagement gegen das braune Gedankengut zu wirken versucht, waren aber von den sogenannten Deutschen Christen aus der Gemeinde herausgemobbt worden. Dieser belastenden Vergangenheit müssen wir uns heute stellen, ohne etwas zu beschönigen. Trotzdem kann die Gemeinde beim Rückblick auf ihre Geschichte nun dank der detaillierten Forschung auch auf diese glaubwürdigen Christen verweisen, an die es ebenfalls zu erinnern gilt.
Ein Lernort entsteht
Die Glocke wird Anfang Juni vom Kirchturm genommen und ins Museum Neukölln gebracht. Sie soll für zukünftige Generationen zum Zeugnis erhalten werden, wohin die Verquickung von Christentum und totalitärem Zeitgeist führen kann. Sie wird also in einen pädagogischen Kontext gebracht und kann künftig als eine Art Lernort dienen.
Mit der Schenkung an das Museum Neukölln, dessen Direktor Udo Gößwald ein hilfreicher Kooperationspartner im Prozess der Aufarbeitung war, hat die Geschichte der mit Nazi-Symbolen belasteten Glocke ein gutes Ende gefunden. Sie wird im Speicher des Museums aufgestellt, wo sie zukünftig von Interessierten nach Voranmeldung unter pädagogischer Begleitung besichtigt werden kann.
Die Forschungsergebnisse über die Glocke werden am 4. Juni um 19 Uhr bei einer Veranstaltung im Museum Neukölln präsentiert. Hier wird auch ein Film von der Abnahme und Überführung der Glocke gezeigt. Link zum Livestream: https://youtu.be/R5W9d7fIMR0