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Vision eines anderen Tages

Andacht über den Predigttext zum Israelsonntag, 10. Sonntag nach Trinitatis: Jesaja 62, 6-12

Predigttext
6 O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, 7 lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! 8 Der Herr hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, 9 sondern die es einsammeln, sollen‘s auch essen und den Herrn rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums. 10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! 11 Siehe, der Herr lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! 12 Man wird sie nennen „Heiliges Volk“, „Erlöste des Herrn“, und dich wird man nennen „Gesuchte“ und „Nicht mehr verlassene Stadt“.

Über aller Finsternis der Erfahrung steht die Vision eines anderen Tages
Martin Buber nannte die Hebräische Bibel „die Schallplatte ihrer Gesprochenheit“. Bibeltexte sind dafür da, hörbar gemurmelt und laut gesprochen zu werden. Das, was es dann zu hören gibt, sei gleichsam das Gefäß, in dem sich Gottes Geist befindet. Die Bibel sei durch „lauschendes Sprechen“ entstanden. Wer etwas von den in ihr schlummernden rettenden Kräften empfangen will, ist zum Einen eingeladen und aufgefordert: Lauschend zu hören, hörend zu lauschen. Dazu muss sozusagen die Schallplatte aus dem Regal genommen, entstaubt und aufgelegt werden.
Was gibt es zu hören, wenn Jesaja 62 „aufgelegt“ wird? Weder Requiem noch Trauermarsch! Wobei angesichts dessen, was Jerusalems Menschen damals durchmachten, die traurigste Musik angemessen gewesen wäre. Die Zeit nach dem Exil war nämlich wieder einmal gefüllt von geplatzten Träumen und unfassbaren Schmerzen. Wenn Musik, dann müsste es also ganz dunkle sein, voll von Moll und irritierenden Disharmonien.
Aber das hören wir nicht. Wir hören auch keinen Abgesang, in dem der lauschende Sprecher den geplagten Jerusalemern zubrüllt oder zuzischt, dass es ein für alle Mal aus ist mit der Treue Gottes Israel gegenüber. Viele Christen meinten genau dies zu hören und bewiesen damit nur eines: Sie lauschten nicht genau und so wurden christliche Ohren verstopft durch antijüdische theologische Theorien. Wir hören nichts davon, dass Gott sein Volk verstoßen habe. Was wir hören, ist voller Gewissheit. Jesaja zerreißt mit seiner Rede die undurchdringlich drohenden Wolken. Menschen werden damit beauftragt, Gott öffentlich Tag und Nacht in den Ohren zu liegen, bis sich das Blatt für Jerusalem zum Guten wende.
Alle Welt wird staunen über die Treue Gottes gegenüber seinem Volk und seiner Stadt. Das Leben wird gelingen. Die Vorhöfe seines Heiligtums werden zum Ort eines großen Festes. Menschen werden endlich verstehen: Das Wort „Jude“, das auch im Jahr 2018 als Schimpfwort missbraucht wird, bekommt endlich den Klang und die Bedeutung, die schon immer in ihm steckten: Jude – in den hebräischen Konsonanten Jod- Dalet-He – steckt „Loben, Preisen, dankbar sein und in diesem Sinn Gottes Namen bekennen“. Die Völker werden ihren Antijudaismus als Zeichen grauenhafter Verblendung erkennen und überwinden. Und die Stadt, die nie Frieden sah und mit deren Name die tiefe Sehnsucht nach Schalom verbunden ist, wird diesen Frieden verkörpern. Sie muss nicht mehr gesucht werden, weil sie längst gefunden ist.
Wer das lauschend gehört hat und dann die Wirklichkeit des Jahres 2018 doch wieder an sich heranlässt, muss irritiert sein. Wozu kann die Differenz zwischen dem großen Traum Gottes und der nüchternen Realität führen? Bitte nicht zu selbstgerechtem Urteilen über die, die den Frieden nicht hinbekommen. Eine andere Möglichkeit wäre es: Synagoge und Kirche besinnen sich gemeinsam auf das prophetische Erbe der hebräischen Bibel.
So ersehnt es Abraham Joshua Heschel. „Was die Propheten vor der Verzweiflung rettete, war ihre messianische Schau und der Gedanke an die Fähigkeit des Menschen zur Umkehr. Diese Schau und dieser Gedanke bestimmen ihr Verständnis der Geschichte. Geschichte ist keine Sackgasse; Schuld ist kein Abgrund. Es gibt immer einen Weg aus der Schuld: Reue und Umkehr zu Gott. Der Prophet ist ein Mensch, der zwar im Entsetzen lebt, aber doch die Kraft hat, sein Entsetzen zu überwinden. Über aller Finsternis der Erfahrung steht die Vision eines anderen Tages.“