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Vertraut den neuen Wegen

Berlin Mitte, Sonntagmorgen, kurz nach zehn. Gottesdienst. Der Pfarrer verkündet stolz, dass er ein neues Lied geschriebe hat. Dem Kantor ist auch gleich eine Melodie dazu eingefallen. Und das Lied soll nun gesungen werden.
Erste Unmutsbekundungen aus der Gemeinde: „Och nö, nicht schon wieder.“ – „Immer dieser neumodische Kram.“ – „Reichen denn nicht die schönen alten Lieder von Martin Luther? Muss es denn unbedingt was anderes sein?“ – „Und schon wieder so viele Strophen. Die kann sich doch kein Mensch merken.“
Der Dreh an meiner kleinen Geschichte? Die Kirche ist die Nikolaikirche in Berlin. Wir schreiben das Jahr 1660 oder 1661. Der Pfarrer: Paul Gerhardt. Der Kantor: Johann Crüger. Die Lieder: unsterblich. Heute aus dem Gesangbuch nicht mehr wegzudenken.

Ich erzähle meine kleine Geschichte gerne, wenn der Pfarrer mal wieder neue Lieder aus dem Gesangbuch – oder, bewahre, aus dem Beiheft „Wortlaute“ – für den Gottesdienst ausgesucht hat. Das kommt nämlich nicht immer gut an. Viel lieber wird das Vertraute, das Bekannte gesungen. Doch auch das war irgendwann mal neu.
Wer kann schon sagen, was nachfolgende Generationen von den für uns neuen Liedern behalten haben? Was für sie altvertraut und liebgeworden ist. Mein Bruder nennt solche Lieder Sakralkracher. Ein geistlicher Hit.
Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und prophezeihe, dass „Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“ auch noch in 50 Jahren ein Favorit für den Traugottesdienst ist. Eben ein Sakralkracher. Öffnen wir unsere Herzen für das Neue. Wunderbare Entdeckungen warten.