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Vertrauensvoll einander zugetan

Die heilpädagogische Kita in Marl hat den Spieß umgedreht und ihre Türen für Kinder ohne Handicap geöffnet

Inklusion heißt für die meisten Eltern, dass Regelkindertagesstätten ihre Türen auch für Kinder mit Behinderung öffnen. In Marl war es umgekehrt. Hier hat die heilpädagogische Einrichtung der Diakonie im Sommer 2012 begonnen, Kinder ohne Handicap mit aufzunehmen. Heute gilt die evangelische Kita Arche als Vorzeigemodell eines entspannten und gleichberechtigten Miteinanders von Kindern mit und ohne Behinderung.
„In einer Kindertagesstätte ist es ohnehin sehr bunt, bei uns ist es vielleicht noch ein bisschen bunter“, sagt Tanja Trybusch, Leiterin der inklusiven Kita Arche der Diakonie in Marl. Wenn man in die Einrichtung kommt, fällt als erstes auf, dass man nicht sieht, wer behindert ist und wer nicht. Die Kinder mit Hilfsmitteln, etwa einem Rollstuhl, das erkennt man natürlich. Aber sonst, alles Kinder.
Vor fünf Jahren, als die Politik sich die Inklusion auf die Agenda schrieb, da war die heutige Kita noch eine heilpädagogische Einrichtung, in der behinderte, schwerstmehrfach behinderte Kinder und traumatisierte Kinder betreut wurden. Man habe dann entschieden, die Einrichtung für alle Kinder zu öffnen, erzählt Leiterin Tanja Trybusch. „Wir hatten das Glück, dass wir mit unserer Vision unterstützt wurden.“ Nur durch eine eng verzahnte Zusammenarbeit zwischen Landesjugendamt, kommunalen Jugendämtern und der Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen könne man den Standard in der Einrichtung bieten, der sich in der Interdisziplinarität und der Gruppengröße spiegelt.
Und dann hat man sich auf den Weg gemacht. Schritt für Schritt wurde Begegnung gestaltet und ermöglicht. Die Kita-Experten der Dia­konie Rheinland-Westfalen-Lippe haben diesen Prozess begleitet. Gestartet wurde mit einem Elterncafé. Dort haben sich die Mütter und Väter der Kinder mit und ohne Behinderungen kennengelernt. „Ich bin überzeugt, Inklusion funktioniert nur, wenn man alles ansprechen darf, so habe ich das auch allen gesagt“, meint Trybusch. Während Mütter von Kindern mit schweren Behinderungen oft Angst hätten, dass ihr Kind in der Gruppe nicht genug Fürsorge erhalte, sorgten sich andere Mütter darum, ob ihr Kind in der inklusiven Kita genug lerne.
Mittlerweile gibt es zwei Kindertagesstätten, mit 100 Kindern in sieben Gruppen, die von einem interdisziplinären Team, bestehend aus Erziehern, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Heilpädagogen, aber auch jungen Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr betreut werden. Das Team sei sehr engagiert, neugierig und motiviert, und das sei entscheidend für die Arbeit, so die Leiterin. Und das Interesse in Marl ist groß. „Wir haben eine lange Anmeldeliste und bekommen Initiativbewerbungen von Fachkräften, die bei uns arbeiten möchten. Ich glaube, unser pädagogisches Konzept überzeugt“, sagt Tanja Trybusch.
Dazu gehört auch, dass die Kinder in vielen Bereichen mitentscheiden dürfen. Etwa bei der Vergabe der Gruppennamen. So hätten sich die Vorschulkinder im vergangenen Jahr in geheimer Abstimmung für „Batman“ entschieden. „Das ist kein Name, von dem Mütter oder Erzieherinnen träumen“, so die Kita-Leiterin. Auch die Schultüten werden ohne die üblichen Schablonen gebastelt, weil manche Kinder mit Behinderungen keine Motive wie etwa Blumen ausschneiden können.
Zum Konzept gehört auch, dass in der evangelischen Kindertagesstätte nicht für alle Kinder die gleichen Regeln gelten. Ein Kind, das an einer starken Aufmerksamkeitsstörung leidet, könne nicht die ganze Zeit am Tisch sitzen, betont Trybusch. Aber ein Kind, dessen Mutter an Krebs erkrankt sei, brauche auch eigene Regeln. Man müsse nicht falsche Rücksicht nehmen, wenn zum Beispiel jemand ärgert, der behindert sei. Nichtbehinderte Kinder dürften auch einem Kind mit Behinderungen sagen, dass sie etwas nicht möchten. „Ich rede nichts schöner als es ist. Das ist Leben, und Leben ist nicht immer total rund. Man darf nicht den Humor verlieren, wenn mal was nicht klappt“, sagt Tanja Trybusch. Letztlich seien die Eltern aber stolz darauf, wie selbstverständlich und kreativ ihre Kinder mit Talkern, Rollstühlen oder Gebärden umgehen könnten.
Kerstin Rywoll vom Elternrat berichtet, dass ihr Sohn zu Hause neue Gebärden erfindet und diese seinem Bruder beibringt, obwohl dieser gar nicht schwerhörig ist. Aber er kennt die Gebärden aus dem Kindergarten und benutzt sie ganz selbstverständlich. Inklusion sei ein gesellschaftlicher Wandel und der beginne im Kindergarten, ist Kerstin Rywoll überzeugt. Und Tanja Trybusch ergänzt: „Wir möchten einen Prozess mitgestalten, der nicht davon geprägt ist, was alles nicht geht, sondern mutig und neugierig herausfinden, was alles gehen kann.“