Von “Das fliegende Klassenzimmer” läuft bereits die vierte Umsetzung von Erich Kästners Vorlage im Kino. Bei “Das doppelte Lottchen” und “Emil und die Detektive” sieht es ähnlich aus. Ein Rückblick auf Kästner-Filme im Wandel der Zeit.
Es kommt nicht von ungefähr, dass Erich Kästners Kinderbücher vom Moment ihrer Veröffentlichung an ihren Weg in die Kinos fanden und dort nach wie vor zu Hause sind. Kästner erzählt so bildhaft wie filmreif und hat sich selbst an Drehbüchern versucht.
Um die Spannbreite zu verstehen, innerhalb derer sich die deutschen Kästner-Verfilmungen und Neuverfilmungen qualitativ bewegen, genügt ein Blick auf “Die Konferenz der Tiere”. Eine pazifistische Geschichte, 1949 spürbar unter dem frischen Eindruck des Zweiten Weltkriegs geschrieben, in der die Tiere von den Mächtigen der Welt fordern, es solle endlich Frieden herrschen. Schluss mit Ballerei und Ausbeutung. Als alles nichts hilft, kommt die Ultima Ratio zum Einsatz: Die Tiere entführen die Kinder. Alle Kinder, denn sie sind die, die bei den Tieren das Mitleid entfachte.
Curt Linda machte daraus 1969 einen schrägen und sehr eigenwilligen Zeichentrickfilm, in dem gar nicht so viel gesprochen, dafür vieles umso witziger in Szene gesetzt wird – und eben auch militärische Zurichtungsmaschinerien zu sehen sind, in der die Menschen in militaristische Form gepresst werden.
Gut vierzig Jahre später geht es dann bei der “Konferenz der Tiere” von Reinhard Klooss und Holger Tappe primär um den Umweltschutz, das Thema der Zeit. Der erste in 3D animierte Spielfilm aus Deutschland fällt dann allerdings weniger durch Eigensinn und Originalität auf als durch eine ziemlich zahnlose Botschaft, ein Feuerwerk an Action, wenig Substanz und Figuren, die allzu sehr US-Produktionen nachgeahmt erscheinen.
Irgendwo zwischen diesen zwei Polen leben die Kästner-Kinderfilme: hier künstlerisch eigenwillig und politisch scharf, dort nahe am vermeintlichen Massengeschmack und inhaltlich ausgehöhlt.
Das am meisten verfilmte Kinderbuch von Kästner ist wohl “Das doppelte Lottchen”, ebenfalls 1949 veröffentlicht und ursprünglich einmal als Filmdrehbuch geplant – prompt wurde der Stoff gleich 1950 in Deutschland (unter Kästners Beteiligung) verfilmt, und innerhalb von drei Jahren dann auch noch in Japan und Großbritannien.
Das Grundmotiv der getrennten Zwillingskinder, die sich wiederfinden und kurzerhand das Zuhause tauschen, um die Eltern wieder zusammenzubringen – dieses Grundmotiv scheint international immer wieder zu funktionieren. Es gibt mehrere Verfilmungen (und Fortsetzungen) aus den USA, aus Schweden, Polen und natürlich Deutschland; weltweit am bekanntesten ist wahrscheinlich das amerikanische Disney-Remake “The Parent Trap” (“Ein Zwilling kommt selten allein”) von 1998. Um die Mädchen geht es gleichwohl nur teilweise, die Liebesbeziehung der Eltern rutscht schon leichter in den Vordergrund, und natürlich spielt der Film in der Gegenwart der späten 1990er-Jahre.
Wer Kästner verfilmt, das scheint eine ungeschriebene Regel zu sein, transponiert ihn stets in seine eigene Gegenwart. Immer wird der Stoff aktualisiert, mehr oder weniger erfolgreich modernisiert und angepasst. Die zentralen Figuren bleiben erhalten, verschieben sich aber, tauschen auch mal die Rollen und Eigenschaften.
Am deutlichsten wird das wohl bei “Emil und die Detektive”: Da geht es zuallererst um eine Zeitreise durch die Stadt Berlin – von 1931 bis zuletzt 2001. In Peter Tewksburys US-Verfilmung von 1964 liegen im Nachkriegsberlin noch immer einzelne Gebäude in Trümmern, Franziska Buch lässt dann 2001 den Dieb Grundeis im Adlon absteigen, nachdem er vorher im Oberbaum-Eck pausiert hatte, und die Kinder haben ihr Bandenversteck unter einer Brache am Potsdamer Platz. Da ist das noch recht frisch vereinigte, sich neu aufbauende Berlin in jeder Szene sicht- und spürbar.
Zugleich sind die Geschlechterrollen angepasst: Pony führt die Bande, Gustav ist als Pastorinnensohn zunächst ein wenig außen vor, Emils alleinerziehender Vater ist arbeitslos im Osten, die Mutter mit neuem Freund in Kanada. Auch in “Das fliegende Klassenzimmer” von 2003, das gleich ganz nach Leipzig umgezogen wurde, spielt das Deutschland nach der Einheit eine große Rolle.
Die Kästner-Verfilmungen sind geradezu Musterbeispiele für die zahlreichen Kinderbuch-Verfilmungen, an denen sich ausbuchstabieren ließe, was zu einer jeweiligen Zeit gerade als wichtig und richtig für Kinder- und Familienfilme gesehen wird. Wenn etwa zur Jahrtausendwende flotte Musik den Sprechgesang unterlegt und die Kinder synchron scheinbar spontane Tanzmoves auf den Asphalt legen, dann ist das natürlich wenig Kästner und viel Vermutung über die Publikumserwartung.
Ein klarerer Erbe von Kästners Erzählhaltung, mit einfachen Worten und großer Klarheit die soziale Realität im Leben der Figuren sichtbar zu machen, scheint da der Roman “Rico, Oskar und die Tieferschatten” (2008) von Andreas Steinhöfel zu sein – der nicht umsonst 2009 den Erich-Kästner-Preis für Literatur erhielt. Er nimmt die Perspektive der Kinder ein, beobachtet ihr soziales Umfeld aufmerksam und beschreibt es genau – auch in Neele Leana Vollmars Verfilmung.
Wenn jetzt “Das fliegende Klassenzimmer” neu im Kino läuft, hat es reichlich historischen Ballast an Bord. Das Buch wurde 1933 veröffentlicht, als Kästners Bücher noch nicht als “wider den deutschen Geist” verurteilt und verbrannt wurden. Und natürlich darf man den gern genutzten Ausspruch “An allem Unfug, der geschieht, sind nicht nur die schuld, die ihn begehen, sondern auch diejenigen, die ihn nicht verhindern” als Kommentar zur Zeit lesen.
Kästner taucht dann 1954 in der Rahmenhandlung der ersten Verfilmung noch selbst als Erzähler auf. 1973 fliegt Joachim Fuchsberger mit seiner Schulklasse am Ende sogar wirklich nach Mombasa – der Film beginnt und endet mit schönen Aufnahmen von fliegenden Lufthansa-Maschinen. Und natürlich muss der Nichtraucher schließlich unter die Haube und in neue Arbeit, denn ledige Müßiggänger sind kein gutes Vorbild für die Kinder. Das waren Zeiten!
Es waren auch Zeiten, in denen Internate womöglich noch nicht so sehr als eher seltsame Kuriosität galten wie heute. Franziska Buch verlegte die Handlung 2003 dann ja nicht nur nach Leipzig, sondern vor allem ins Internat des Thomanerchors. In der Gegenwart von 2023 wirkt das Internat oben in den Bergen ähnlich aus der Zeit gefallen wie in vergleichbaren Szenarien a la “Burg Schreckenstein”.
Natürlich hat sich viel getan, das ist gut und richtig: Die Hauptfigur im neuen “Fliegenden Klassenzimmer” ist Martina, die aus der ganz großen Stadt kommt. Da lebt man, so scheint es, finanziell prekär – ohne den Stadt-Land-Kontrast kommen Internatsfilme in den letzten Jahren nicht aus. Ihr zur Seite steht nicht mehr Johnny, sondern das Mädchen Joe, und Matz will eigentlich nicht mehr Boxer werden, nur das Trainieren gefällt ihm. Und beim Kampf mit den Externen unterliegt er ohne großen Kampf einem groß gewachsenen Mädchen.
Die Grundzüge der Geschichte tragen gleichwohl immer noch. Es holpert und knirscht immer dann, wenn die Filmemacherinnen sich nicht entschlossen genug trauen, die Gegenwart wirklich hineinzulassen in den Film, oder diese eben nicht genau genug anschauen.
Vielleicht müssen die Filme heute auch gar nicht so offensichtlich belehrend sein, wie Kästners Erzählerstimme es zuweilen ist. Vielleicht muss man nicht alles mehrfach ausbuchstabieren, und vielleicht darf es auch etwas weniger brave Bürgerlichkeit sein als in den Filmen der letzten siebzig Jahre.
Kästners Geschichten, vor allem seine Themen, vertragen es leicht, in die Gegenwart getragen zu werden, so viel sich auch seitdem verändert haben mag. Man darf aber auch dem Publikum, dem jungen zumal, mindestens so viel zutrauen, wie Erich Kästner es den Kindern schon immer zugetraut hat. Im Frohen wie im Traurigen: “Wie kann ein erwachsener Mensch seine Jugend nur so vollkommen vergessen, dass er eines Tages überhaupt nicht mehr weiß, wie traurig und unglücklich Kinder bisweilen sein können?”