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Vererbte Traumata – ZDF-Doku geht auf Spurensuche nach Ruanda

Krieg, Gewalt, Schweigen: Der 35 Jahre alte Julien wird immer wieder von einem unerklärlichem Herzschmerz und Trauergefühl ausgebremst. Eine ZDF-Dokumentation begleitet ihn bei der Suche nach der Ursache.

Seelische Wunden durch Gewalt, Krieg und Katastrophen können über Generationen hinweg vererbt werden. Denn wenn ein Mensch solche überwältigenden traumatischen Erfahrungen nicht verarbeiten kann, hinterlässt das nicht nur Spuren in seiner Seele, sondern auch im Erbgut. Die einfühlsame ZDF-Dokumentation “37 Grad: Ererbtes Trauma – Julien und der Schmerz der Anderen” stellt am 29. April um 22.15 Uhr den 35-jährigen Julien aus Hessen vor, der unter ständiger Trauer leidet. Sein lange verstorbener Vater war Tutsi und überlebte in den 1990er Jahren den Völkermord in Ruanda. Gesprochen hat nie er darüber.

“Transgenerationale Weitergabe” nennt es die Forschung, wenn seelische Verletzungen über mehrere Generationen überliefert werden. Vererbt werden traumatische Folgen einer Erfahrungen meist unwissentlich von Eltern oder Großeltern an die Nachkommen. Erhöhte Verwundbarkeit, irrational erscheinende Ängste und Selbstwertprobleme können Folgen sein; Betroffene leiden darunter, als hätten sie selbst das Trauma erlitten. Epigenetiker, die die Regulation von Genen wissenschaftlich untersuchen, haben herausgefunden, dass ein Trauma sogar das Erbgut verändern kann – die Vergangenheit lebt quasi auch in den Zellen der Nachkommen fort.

Julien ist ein sportlicher Typ und erlebte in Deutschland nach eigener Darstellung eine unbeschwerte Kindheit: Er wuchs geliebt und behütet bei seiner Mutter und seinen Großeltern in einem Vorort von Frankfurt am Main auf. Juliens Eltern hatten sich früh getrennt. Sein Vater war Tutsi und kam aus Ruanda, jenem ostafrikanischen Land, in dem über 30 Jahre zuvor ein grausamer Völkermord stattfand. Innerhalb von drei Monaten töteten und vernichteten die bevölkerungsstärkeren Hutu bis zu eine Million Tutsi.

Über das, was er damals in seiner Heimat erlebte, hatte Juliens Vater nie erzählt. Trotzdem hat Julien etwas davon gefühlt – und tut dies bis heute. “Ich habe immer einen Schmerz in mir gespürt, eine ständige Trauer, die fast meinen Brustkorb zerreißt. Und doch merke ich, dass der Schmerz mit meinem Leben nichts zu tun hat”, erklärt Julien, der als Video-Produzent arbeitet. In Begleitung des Filmteams macht er sich zum ersten Mal in seinem Leben auf den Weg nach Runanda. Er trifft dort Verwandte wie seine Cousine Cecil, Oma Florida und Freunde der Familie – und spricht auch mit William, dem besten Freund seines Vaters.

Seit drei Jahrzehnten bilden die Hamburger Filmemacherin Tina Soliman (Buch und Regie) und Torsten Lapp (Kamera) ein erprobtes Filmemacher-Team. Mit der ZDF-Doku “37 Grad: Ererbtes Traum” ist beiden ein weiteres Filmwerk mit Seltenheitswert gelungen. Für Soliman war es, wie sie sagt, besonders berührend zu sehen, wie Julien in der ruandischen Hauptstadt Kigali geradezu aufblüht, wie selbstverständlich in die Kultur eintaucht, obwohl er noch nie zuvor dort war. Julien reagiert auf Klänge, Gerüche und Bewegungen, als ob er sie schon einmal gehört, gerochen, getanzt hätte. “Diese Reise ist das Heilsamste, was ich in den letzten 35 Jahren getan habe”, sagt er selbst über seine mutige Spurensuche.

Jahrelang hat sich Soliman in Filmen und Büchern mit der transgenerationalen Weitergabe von Traumata befasst. Am Beispiel von Julien behandelt die Regisseurin das wissenschaftliche Thema nun erneut auf sensible Weise. “Dieses Thema trifft jeden von uns, denn wir sind alle Kinder unserer Eltern und diese ihrer Vorfahren. Natürlich prägen sie uns, aber uns prägt eben auch, was sie erlebt haben”, sagt Soliman der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Es gehe nicht nur darum, die biografischen Daten in einer Familie zu kennen. “Wichtiger ist, die Gefühle und Ereignisse zu kennen, die damit verbunden sind.” Für Soliman gibt es in diesem Bereich noch einiges aufzuarbeiten: Die junge Generation wolle wissen, warum sie ist, wie sie ist. Dazu braucht es auch Mut – und Julien hatte ihn.