“Warum diese ganze Armut?” Der Soziologe Matthew Desmond geht dieser Frage in seinem neuen Buch nach und präsentiert Lösungen. Er beschränkt sich dabei zwar auf die USA – doch Parallelen zu Deutschland sind durchaus da.
Der amerikanische Traum des sozialen Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär scheint seit Langem ausgeträumt. Das Sozialsystem der USA ächzt unter seinen Belastungen und kann dennoch seinem Auftrag kaum mehr gerecht werden. Zuletzt, nach Einstellung der Corona-Hilfen, stieg die Armutsquote noch mal deutlich an. Inzwischen liegt sie bei über zwölf Prozent. Gravierend ist vor allem die hohe Zahl der Menschen, die in bitterer Armut leben und kaum mehr ihren Lebensunterhalt bestreiten können – und das in der nach wie vor größten Volkswirtschaft der Welt.
Auf 5,5 Prozent, rund 18 Millionen Amerikaner, beziffert der US-Soziologe Matthew Desmond die Zahl dieser Menschen in “tiefer Armut” in seinem neuen Buch. Und doch bezeichnet er sie lediglich als Spitze des Eisbergs. Denn auch oberhalb der Armutsgrenze gebe es in den USA “eine ganze Menge Armut”.
Programmatisch da der Titel seines neuen Buches “Armut. Eine amerikanische Katastrophe”. Dabei steht am Anfang die Frage, warum es diese Armut in einem reichen Land wie den USA überhaupt geben muss. “Zig Millionen Amerikaner enden nicht durch eine Irrung der Geschichte oder eine persönliche Fehlentscheidung in der Armut. Die Armut besteht fort, weil einige Leute es so wollen”, ist der Soziologe überzeugt.
Dafür verantwortlich ist aus seiner Sicht auf der einen Seite eine Politik, bei der sich in Sachen Armutsbekämpfung “in den vergangenen fünf Jahrzehnten gar nichts getan” hat. Doch Desmond begnügt sich nicht damit, den sozialen Missstand auf “die Politik” oder “die Wirtschaft” als abstraktes Konstrukt zu schieben. Um Armut wirksam zu bekämpfen, sei es Sache jedes Bürgers, “zum Armutsbekämpfer” zu werden, der sich dagegen entscheide, “als unbewusster Feind der Armen zu leben”.
Viele von Desmonds durchaus provokativ vorgetragenen Thesen – und das ist vielleicht für Leser hierzulande das Interessanteste an der Publikation – lassen sich jedoch auch auf die gesellschaftliche Debatte in Deutschland übertragen. Wenn der Autor beispielsweise der Frage nachgeht, ob höhere Sozialleistungen arme Menschen faul werden ließen, erinnert das an die Debatte, die jüngst um die Einführung des Bürgergeldes in der Bundesrepublik geführt wurde.
Desmond kommt bei dieser Frage auf die USA bezogen übrigens zu dem Ergebnis, dass an dem Mythos nichts dran sei. So blieben jährlich Milliarden Dollar an Sozialhilfe liegen, da der Großteil der armen Menschen entweder aus Unwissen oder Scheu vor der Bürokratie die erforderlichen Anträge dafür nicht stelle. “Die Armen haben kein Talent zur Abhängigkeit”, konstatiert der Autor. Er stellt zugleich klar, dass Familien der Mittel- und Oberschicht die ihnen zugedachten Unterstützungen durchaus ausschöpften, alleine schon in der jährlichen Steuererklärung. “Staatliche Hilfe ist ein Nullsummenspiel. Die größten Summen werden nicht darauf verwendet, Arme aus der Armut zu führen, sondern darauf, Reichen den Reichtum zu sichern”, so das Resümee.
Desmond, Sohn eines Pastors der protestantischen First Christian Church aus Arizona, wuchs nach eigenen Angaben selbst in ärmlichen Verhältnissen im Westen der USA auf. Viele seiner Thesen untermauert er mit persönlichen Beispielen, Menschen in vergleichbaren Situationen, die er kennengelernt hat. Er erscheint damit umso mehr als ehrlicher Anwalt seines Anliegens.
In fast allen Ausführungen über Ungleichheit tritt bei Desmond auch der “Schwarz-Weiß-Kontrast” in den Vordergrund: Während eine weiße vermögende Mittel- und Oberschicht vor allem bestrebt ist, ihren Reichtum zu verwalten und zu mehren, ist eine schwarze Unterschicht am anderen Ende Diskriminierung ausgesetzt und Leidtragende dieser Entwicklung.
Zwar betont der Soziologe mehrfach, dass dies kein festgeschriebenes Gesetz sei, es selbstverständlich auch arme Weiße gibt – seine eigene Geschichte steht dafür. Dennoch zieht sich das Schema wie ein roter Faden durch das Buch. Liberale Weiße aus dem Mittelstand, die die Demokraten wählen, würden den Bau von Sozialwohnungen für arme Schwarze sicher unterstützen – aber nicht vor der eigenen Haustür: “Vielleicht ist das Land ja gar nicht so tief gespalten, wie man immer hört. Vielleicht sind wir ab einem bestimmten Einkommen alle Befürworter der Rassentrennung”, so Desmond. Das kann mitunter ermüdend wirken, zum 70. Jahrestag der Abschaffung der Rassentrennung in diesem Jahr entbehrt es allerdings auch nicht einer gewissen Brisanz.
Schon 2017 befasste sich Desmond mit Armut im städtischen Kontext. Für sein Werk “Zwangsgeräumt. Armut und Profit in der Stadt” wurde er mit dem Pulitzer-Preis für Sachbücher ausgezeichnet. Sein neues Werk schließt daran an. Nachdem er in den ersten sechs Kapiteln die Armutsproblematik an Beispielen wie Arbeitnehmerrechten, Wohnsituation, Sozialhilfe und Bildungswesen beschrieben hat, geht der Soziologe in den verbleibenden drei Kapiteln dann verstärkt auf Lösungsansätze ein.