Die medizinische Zwangsbehandlung eines unter Betreuung stehenden Patienten muss nach einem Gerichtsurteil ausnahmsweise auch in seinem privaten Wohnumfeld möglich sein. Die gesetzliche Regelung, wonach diese Zwangsbehandlung zwingend in einer Klinik erfolgen muss, verstößt gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit und ist teilweise verfassungswidrig, urteilte am Dienstag das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. (AZ: 1 BvL 1/24) Bis zum 31. Dezember 2026 muss der Gesetzgeber eine verfassungsgemäße Neuregelung schaffen. Bis dahin gelte das bisherige Recht weiter, hieß es.
Derzeit erlaubt das Gesetz ärztliche Zwangsmaßnahmen bei unter Betreuung stehenden Menschen nur im Krankenhaus, nicht aber etwa in einem Pflegeheim. In Kliniken, so die Einschätzung des Gesetzgebers, könnten multiprofessionelle Teams die Erforderlichkeit der Zwangsmaßnahme – etwa die zwangsweise Verabreichung von Medikamenten – besser prüfen. Zudem muss das Betreuungsgericht die Maßnahme genehmigen.
Im konkreten Fall hatte eine unter Betreuung stehende, an einer paranoiden Schizophrenie erkrankte Frau aus dem Raum Lippstadt mehrfach die erforderliche medikamentöse Behandlung verweigert. Sie lebt in einem betreuten Wohnverbund.
Ihr Betreuer beantragte die ärztliche Zwangsbehandlung in ihrem Wohnumfeld, um einen stationären Klinikaufenthalt zu umgehen. Eine Traumatisierung der Frau durch die Zwangsmaßnahme könne in ihrem vertrauten Wohnumfeld vermieden werden, lautete die Begründung. In der Vergangenheit wurden der Frau im Krankenhaus zwangsweise Medikamente verabreicht. Dabei musste sie teilweise fixiert werden.
Amts- und Landgericht lehnten die Zwangsmaßnahme in der Wohneinrichtung jedoch ab. Diese müsse im Krankenhaus erfolgen. Der Bundesgerichtshof hielt die bestehende gesetzliche Regelung für verfassungswidrig und legte das Verfahren dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor.
Die Verfassungsrichter urteilten, dass die Zwangsbehandlung regelmäßig in einer Klinik erfolgen könne. Es gehöre zur Schutzpflicht des Staates gegenüber einwilligungsunfähigen Menschen, dass eine Zwangsbehandlung nur zulässig sei, wenn sie tatsächlich medizinisch notwendig und als letztes Mittel anzusehen sei. Das könne in einem Krankenhaus durch multiprofessionelle Teams auch angemessen geprüft werden, so das Gericht.
Die „ausnahmslose“ Zwangsbehandlung in einer Klinik sei jedoch unverhältnismäßig, wenn sie auch in einer Wohneinrichtung durchgeführt werden könne und dort der Krankenhausstandard eingehalten werde. Wenn durch die Zwangsmaßnahme im vertrauten Wohnumfeld eine Traumatisierung des Betroffenen eher vermieden werden könne, müsse die Zwangsbehandlung auch dort möglich sein, so das Gericht. Andernfalls könne das Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt werden.