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Unpünktlichkeit: Wer andere warten lässt

Verspäten kann sich jeder mal, doch manche Menschen haben grundsätzlich Schwierigkeiten damit­, pünktlich zu sein. „Ihre Zeit“ scheint einfach eine andere zu sein.

Manche Menschen können sich so viele Wecker stellen, wie sie wollen - sie kommen doch meistens zu spät.
Manche Menschen können sich so viele Wecker stellen, wie sie wollen - sie kommen doch meistens zu spät.TSEW/ shutterstock.com/Lazy_Bear

Gerade ist Stille in der Kirche eingekehrt. Die Reihen sind gut gefüllt, erwartungsvoll sind die Blicke auf die Pastorin gerichtet. Dann klappert die Eingangstür. Köpfe wenden sich, schauen, wer da hineinkommt. Bei der Frau, die nun zügig in die Kirche geht, ist keine Spur von Scham oder Unbehagen zu sehen und anstatt sich schnell hinten einen Platz zu suchen und zu setzen, schreitet sie weiter den Mittelgang entlang bis ins Seitenschiff, nicht einmal bemüht, leise aufzutreten. Zu spät kommen und dann noch alle Blicke auf sich ziehen – was für ein Auftritt!

Für jemanden, der es hasst, unpünktlich zu sein, wäre so ein Verhalten undenkbar. Mit eingezogenem Kopf wäre diese Person wohl möglichst unauffällig in die hinterste Reihe geschlüpft. Wenn schon zu spät, dann wenigstens nicht auffallen! Die Frau in der Kirche hingegen scheint ihre Verspätung regelrecht genossen zu haben.

Pünktlichkeit hat für Menschen einen unterschiedlichen Stellenwert

Welchen Stellenwert Pünktlichkeit bei uns hat, hängt davon ab, was für ein Zeiterleben wir haben. So unterscheidet der Psychologe Jeff Conte von der Universität San Diego in zeitorientierte Menschen und in erlebnisorientierte Menschen. Die zeitorientierten Typen haben ein präzises Zeitgefühl, sind häufig ehrgeizig, leistungsorientiert und durchorganisiert. Erlebnisorientierte Typen hingegen sind eher entspannt, kreativ und oft chronische Zuspätkommer. Das erklärt, warum sich bei vielen das Empfinden von Unpünktlichkeit nicht ändert – wer als Kind schon ungern zu spät ist, wird es als Erwachsene wahrscheinlich immer noch sein. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Doch Unpünktlichkeit ist nicht nur eine Frage des Typs. Falsche Selbsteinschätzung, mangelndes Zeitmanagement, Desinteresse, manchmal sogar Überheblichkeit – es gibt viele Gründe, warum Menschen sich verspäten. Und wenn ein Chef seine Mitarbeiter wie selbstverständlich warten lässt, kann Unpünktlichkeit auch als Machtdemonstration verstanden werden.

Fünf Minuten plus/minus

Egal, was die Ursache ist: Für die Wartenden ist die Unpünktlichkeit fast immer ein Ärgernis. Laut mehreren Umfragen hält die Mehrheit der Deutschen eine Verspätung von fünf Minuten für akzeptabel, das akademische Viertel halten immerhin noch elf Prozent für vertretbar. Länger als 15 Minuten wollen die meisten bei privaten Verabredungen aber nicht warten – und schon gar nicht jedes Mal. Denn mal verspäten kann sich jeder. Aber immer wieder? Chronische Unpünktlichkeit ist nicht nur unhöflich, sondern unverschämt.

Aber Vorsicht: Nicht nur Zuspätkommen ist unhöflich, auch wer zu früh da ist, zeigt wenig Respekt für den anderen. Fünf Minuten vor der Zeit ist „des Deutschen Pünktlichkeit“, so sagt der Volksmund. Aber wirklich nur fünf Minuten.