Israels Regierung hält sich zurück mit dem Bekanntmachen ihrer Pläne für Gaza nach dem Krieg. Jüdische Wiederbesiedlungsfantasien rechter israelischer Abgeordneter sorgen unterdessen für Unmut in den USA.
Der Krieg im Gazastreifen, ausgelöst durch den Terrorangriff der radikalislamischen Hamas am 7. Oktober, hat seinen 90. Tag erreicht. Immer wieder betonen israelische Politik und Armee, dass das erklärte Ziel der Vernichtung der Hamas Zeit brauche und der Krieg sich noch über Monate hinziehen könne. Offiziell Zurückhaltung herrscht, wenn es um Nachkriegsszenarien für den Gazastreifen geht. Allerdings werben Stimmen vor allem aus dem rechtsnationalen und rechtsextremen Regierungslager für eine “freiwillige Abwanderung” der Gazabevölkerung und eine jüdische Wiederbesiedlung – und verärgern damit den engen Verbündeten USA.
Es sei zu früh, über den Tag danach im Gazastreifen zu sprechen, äußerte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wiederholt. Berichten der “Times of Israel” von Ende Dezember zufolge soll er mehrfach die Bitten von Geheimdienst- und Armeechefs zur Erörterung eines Nachkriegsplans abgelehnt haben. Deutlich wurde der Regierungschef gleichwohl: bezüglich einer möglichen Rolle der Palästinensischen Behörde (PA) in Nachkriegs-Gaza. Man werde den “fatalen Fehler von Oslo nicht wiederholen” und “Hamastan nicht durch Fatahstan ersetzen”, sagte er Mitte Dezember auf der Plattform X, in Anspielung auf die Fatah-Bewegung des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas und die gescheiterten Friedensabkommen der 90er Jahre.
Die USA, Israels engster Verbündeter, bestehen auf einer Beteiligung der Palästinensischen Behörde (PA) im Nachkriegs-Gaza. Eine PA-geführte Regierung soll, so die US-Vision, schließlich zu einem palästinensischen Staat im Westjordanland und Gazastreifen führen. US-Präsident Joe Biden sprach in einem Beitrag in der “Washington Post” im November von einer “wiederbelebten Palästinensischen Behörde”, wissend, dass die gegenwärtige Zusammensetzung der palästinensischen politischen Führung unter einem alternden und zunehmend autokratischen Abbas seit 2006 keine Wahlen mehr durchgeführt hat und unter massiven Korruptionsvorwürfen steht.
Lauter als Netanjahu äußerten sich diverse Abgeordnete des Regierungslagers, darunter auch Minister. Finanzminister Bezalel Smotrich von der rechtsextremen Partei “Religiöser Zionismus” etwa, der wiederholt forderte, die bisherigen Bewohner Gazas sollten im Rahmen eines internationalen Plans “freiwillig” auswandern, “100.000 oder 200.000 Araber” könnten bleiben. “Mehr als 70 Prozent der israelischen Öffentlichkeit” unterstützen eine solche “humanitäre Lösung”, so Smotrich am Mittwoch. Israel könne sich keine Realität leisten, in der in Gaza “zwei Millionen Menschen jeden Morgen mit dem Wunsch nach der Zerstörung des Staates Israel aufwachen und mit dem Wunsch, Juden abzuschlachten, zu vergewaltigen und zu ermorden”.
Die hebräischsprachige Schwester der Times of Israel, “Zman Yisrael”, berichtete am Mittwoch von geheimen Gesprächen Israels mit mehreren Ländern, darunter Kongo, über die mögliche Aufnahme von Palästinensern aus dem Gazastreifen.
Sowohl Smotrich als auch sein rechtsradikaler Kollege im Amt des Ministers für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir (Partei “Jüdische Stärke”) machten sich für neue jüdische Siedlungen im Gazastreifen stark. 2005 hatte Israel seine 21 Siedlungen dort geräumt.
Zuletzt soll sich auch Netanjahu für einen Bevölkerungstransfer ausgesprochen haben. Sein Büro ließ er unterdessen öffentlich erklären, weder Smotrich noch Ben-Gvir verträten in dieser Frage die Regierungspolitik. Es bleibt ein Balanceakt, denn Netanjahu ist zum Überleben seiner Koalition ebenso auf Smotrich und Ben-Gvir angewiesen wie auf die USA im anhaltenden Krieg.
Die aber stellen sich deutlich gegen jedwede Pläne, die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens umzusiedeln und erneut Siedlungen in Gaza zu errichten. Als “aufrührerisch und unverantwortlich” verurteilte der Sprecher des US-Außenministeriums Matthew Miller laut Berichten am Dienstagabend namentlich die Rhetorik der beiden Minister.
Unterstützung erhält die US-Sicht von den Nachbarländern Ägypten und Jordanien, aber auch zahlreichen Ländern der EU. “Wir weisen in aller Deutlichkeit die wenig hilfreichen Äußerungen israelischer Regierungsminister zurück”, erklärte am Mittwoch ein Sprecher des Auswärtigen Amtes. Die deutsche Position sei klar: “Es darf weder zu Vertreibungen noch zu einer territorialen Verkleinerung des Gazastreifens kommen”. Ebenso werde am Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung festgehalten.
Auch EU-Außenbeauftragter Josep Borrell sprach auf X von “hetzerischen und unverantwortlichen Äußerungen” Ben-Gvirs und Smotrichs und mahnte, Zwangsumsiedlungen seien “als schwere Verletzung des humanitären Völkerrechts strengstens verboten”.
Ein diplomatischer Plan für eine Zwei-Staaten-Lösung ist neben dem Abzug der israelischen Truppen die Vorbedingung von Abbas für eine Kontrolle des Gazastreifens durch die PA. Dabei hegt er große Erwartungen an die USA. An ihnen liege es, Israel ins Boot zu holen, erklärte er laut Bericht von “Haaretz” gegenüber dem ägyptischen Fernsehsender “On”.
Eine solche palästinensische Verwaltung Gazas sei “die logische Lösung”, wenn kein arabisches Land bereit sei, die Verantwortung für das Gebiet zu übernehmen, schrieb der israelische Journalist und Nahost-Experte Zvi Bar’el in einer Analyse für Haaretz (Dienstag). Dies sei insbesondere für den Nachbarn Ägypten von großer Bedeutung. Hier nämlich wächst die Sorge, dass vertriebene Gaza-Palästinenser in Massen in die ägyptische Sinai-Halbinsel eindringen oder Israel die Kontrolle des sogenannten Philadelphi-Korridors übernehmen könnten, des Gaza-Grenzstreifens zu Ägypten.