Und plötzlich ist alles schwarz. Rabenschwarz.
Als ich wieder zu mir komme, läuft Blut aus meiner Nase. Es ist dunkel draußen. Ich gucke nach rechts. Mein Mann bewegt sich. Es dauert, bis ich verstehe: Uns hat ein anderer mit seinem Auto gerammt. Aber ich lebe. Mein Mann auch.
Ich will aussteigen. Die Tür klemmt. Ich will mich abgurten. Klemmt auch.
Immer wieder Dunkelheit, aber auch Hilfe
Eine warme Frauenstimme dringt zu mir durch: „Wir helfen Ihnen. Rettungswagen ist gleich hier. Wir versuchen, Sie hier rauszukriegen.“ Ich höre weiter weg: „Wir müssen die da rausholen.“ Ich schaue immerzu zu meinem Mann. „Mein Mann ist sehr herzkrank“, sage ich, „kümmern Sie sich um ihn!“ Die Frauenstimme sagt: „Ihm wird geholfen, genau wie Ihnen auch.“ Jemand streichelt meine Hand. Anscheinend ist die Autotür jetzt auf. Menschen wuseln da draußen herum. Irgendwelche Lichter blitzen. Ich falle ins Schwarze. Ich liege auf der Erde, auf Asphalt. Jemand kommt mit einer Decke und schiebt sie mir unter. Wieder tauche ich ab …
Rettungswagen. Ich will nicht wieder abdriften. Wach bleiben. Ich quatsche den Sanitäter voll. Wir kennen beide seine Pastorin, stellen wir fest. Spreche ich die ganze Zeit? Oder bin ich zwischendrin wieder weg? Wo ist mein Mann?
Schockraum. Jemand hält meine Tasche hoch. Aha, die haben sie mitgenommen. In der anderen Hand mein Handy. Das lag in der Autotür. Wie gut, dass die Sanitäter es mitgenommen haben.
„Wartet jemand auf Sie?“, werde ich gefragt. Oh ja – meine alte Mutter. „Ihre Nummer?“ Ich kann schon wieder denken. Nein, nicht meine Mutter anrufen, sie ist dann mit dieser Nachricht allein. Lieber die Nachbarn. Sie bitten, bei Mutter zu klingeln, ihr die Nachricht zu überbringen und etwas bei ihr zu bleiben. Die Telefonnummer steht in meinem Handy. Die Nachbarn werden erreicht. Sie gehen zu ihr. Meinen Sohn in München erreiche ich nicht. Er bekommt eine SMS. Die anderen beiden auch.
Wachstation. Irgendwann klemmt mir irgendwer ein Telefon ans Ohr. Mein Mann. Wir reden kurz. Dann ist die Leitung unterbrochen. Er ist woanders. Aber mit klaren Gedanken. Ich bin beruhigt. Leider vergisst er den Anruf schnell wieder und macht sich entsetzliche Sorgen um mich. Das erzählt er später immer wieder. Wie furchtbar das war, nicht zu wissen, wie es mir geht.
Als ich am Morgen zu mir komme, wird mir klar, was passiert ist. Wir hatten auf der abendlichen Fahrt zu meiner Mutter einen Autounfall. Sind in Rostock, 100 Kilometer von zuhause entfernt, in der Klinik. Hier habe ich vor 34 Jahren meinen Sohn zur Welt gebracht. Ein guter Ort.
Früh am Morgen sitzt plötzlich unser Freund Peter da. Ich fühle mich verwirrt. Wo kommt der her? Er klärt mich auf. Mein Sohn hat ihn morgens, als er die SMS gelesen hatte, gebeten, zu uns zu fahren. Jetzt sucht er den Polizeibericht im Internet. Und sagt mir, dass ich keine Schuld hatte. Ich wusste das. Trotzdem bin ich erleichtert.
Ich bin unter Adrenalin. Schreibe Vollmachten. Peter kriegt raus, wo unser Schrottauto steht, räumt aus, was zu gebrauchen ist. Hinterher sagt er, dass er sehr froh gewesen sei, erst mich und dann unser Auto gesehen zu haben. In den Zeitungen, die mir mitgebracht werden, sehe ich es dann Tage später auch. Gott sei Dank sind wir da lebendig rausgekommen.
Ein nicht abreißender Besucherstrom
Abends sind unsere drei Söhne da. Aus München, Dresden und Berlin. Was für ein gutes Gefühl. Am zweiten Tag „danach“ kommt mein Mann neben mich auf Wachstation. Wir sind zusammen, wir sind beide am Leben. Dieses Wunder wird immer wieder thematisiert zwischen uns. Bis heute. Auch die vier Jugendlichen aus dem anderen Auto sind am Leben, erfahren wir.
Der Besucherstrom reißt nicht ab. Ich habe vor 30 Jahren in Rostock gelebt, durch meinen Beruf habe ich hier oft zu tun. Unser Unfall spricht sich rum. Blumen schmücken unser Zimmer. Ich lebe mit meinem Smartphone. Immer wieder Grüße. Meine Verbindung zur Welt. Als wir wieder nach Hause kommen, begleitet uns ein Sohn die erste Woche. Dann kommt eine Verwandte. Und die Sozialstation.
Meine Freundin bricht sich die Schulter. Die Arme. Und doch: Dadurch ist sie auch zu Hause. Kommt fast jeden Vormittag vorbei. Behandelt meinen Fuß, meine Seele. Ich hoffe, dass ich auch ihr gut tue.
Meine Mutter, 85, die sonst fast jedes Wochenende von uns besucht wurde, muss nun allein klarkommen in ihrem Haus. Aber auch sie erfährt Hilfe. Wir telefonieren viel. Sie ist tapfer, das macht es mir leichter.
Acht Monate später. Ich bin immer noch zu Hause. Ein zersplittertes Sprunggelenk war nicht erkannt worden. Ich hatte gehofft, mit viel Physiotherapie würde ich es schaffen, dass die Knochen ohne Eingriff zusammenwachsen. Taten sie aber nicht. Vor sechs Wochen wurde operiert. Seither habe ich die Wohnung nicht verlassen, weil ich den Fuß nicht aufsetzen darf.
Immer noch haben wir jeden Tag Besuch. Oft wird uns Mittagessen gebracht. Manchmal so viel, dass es auch für den nächsten Tag noch reicht. Manchmal wird noch etwas eingefroren. Immer wieder sagt jemand: „Wir beten für euch.“
Jeden Tag kommen Mitarbeiter der Sozialstation und helfen mir beim Duschen und im Haushalt. Am ersten Sonntag nach der OP wieder zu Hause. Mein Mann will in die Kirche. Da passiert uns beim Frühstück ein Missgeschick. Ich kriege einen Heulkrampf, weil ich nichts machen kann. Erst um 11 Uhr ist die Sozialstation angesagt. Jetzt ist es 9.30 Uhr. Da klingelt es. Meine Lieblingsschwester steht in der Tür. Anderthalb Stunden früher als geplant. Sie sieht, was los ist. Schickt meinen Mann in den Gottesdienst und verspricht, das Chaos zu beseitigen. Mich ermuntert sie, alles rauszuweinen, streichelt mir über den Arm und macht sich an die Küche.
Wer glaubt da nicht an Wunder? Zwischendrin haben wir ein großes Fest gefeiert. Meinen 60. Geburtstag. Ich mit zwei Krücken. Ich habe über 60 Leute eingeladen. Rechne natürlich auch mit Absagen. Es ist nicht zu fassen: Nur ein junges Paar sagt ab. Alle anderen kommen. Wir feiern eine Andacht mit dem Pastor, der uns getraut hat. Singen viele Lieder. Dann feiern wir in einer Gaststätte, in der wir früher gern Mittag gegessen haben und alle Kellner kennen.
Zwei Tage später ist die OP. Wenn ich zurückdenke, denke ich an das wunderbare Fest. Weniger an die OP. Ein Freund schickt gleich nach dem Fest viele Fotos. Ich gucke sie mir jeden Tag mehrmals an. Ich denke oft über diese Menschen nach, die uns beistehen. Wie kommen wir nur dazu? Mir fällt Luthers Wort Gnade ein. Es ist Gnade, die uns zuteil wird.
Die viele Unterstützung – das ist Gnade
Es gibt dunkle Stunden. Oft morgens. Wenn es noch dunkel ist. Mein Mann, viel älter als ich, hält alles aus trotz seiner viel stärkeren Schmerzen mit sechs gebrochenen Rippen. Bei mir gibt’s auch Tränen und Gezeter. Wut – die kommt eher selten. Sie nützt mir nicht. Die Zeit, in der ich dankbar bin für unser beider Überleben, für all die Zuneigung vieler Menschen, ist unendlich größer, weiter. Als ich einmal zu einer Freundin sage, dass ich Jahre zu tun haben werde, um all dies wiedergutzu machen, sagt sie prompt: Hast du doch lange vorher schon.
Hab ich? Egal. Darum geht es ja gar nicht.
• Marion Wulf-Nixdorf ist Redakteurin bei der Mecklenburgischen und Pommerschen Kirchenzeitung in Schwerin.