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Tausende Fahrräder nach Bulgarien verfrachtet

„Im Prinzip wollte ich nur mal helfen“, sagt Ernst Rath. Spontan hatte er bei einem Familienfest im Dezember 1990 beschlossen, seine Neffen und einen bulgarischen Theologiestudenten bei ihrem Hilfstransport nach Bulgarien zu begleiten. Auf der Rückfahrt nach Deutschland bewegte ihn das Gesehene, die Not der Menschen, die sechs Stunden lang für ein Brot anstanden. „Es gab damals viele Hilfsaktionen nach Russland und Rumänien. Ich fragte mich, warum niemand an Bulgarien dachte“, erzählt der Mann aus Murrhardt (Rems-Murr-Kreis).

Also packte er selbst an. Ein kleines Team entwarf einen Flyer, machte die Not des Balkanlandes bekannt und erfuhr viel Unterstützung bei weiteren Hilfstransporten. „Dass sich aus der ‚Bulgarienhilfe‘ als Arbeitszweig des Vereins ‚Missionarischer Arbeitskreis evangelischer Christen‘ eine gewaltige Aufgabe für Jahrzehnte entwickeln würde, hätte damals niemand von uns gedacht“, sagt der heute 84-jährige Evangelist, der immer noch in den Schwarzmeerstaat reist.

Rund 200 Fahrten mit mehr als 2.000 Tonnen Hilfsgütern sind es inzwischen geworden, mit rund 60.000 Kartons mit Kleidern, Schuhen, Bettwäsche und rund 2.000 gebrauchten Fahrrädern. Für etwa 40 Prozent der Bevölkerung des landschaftlich reizvollen Staates, der inzwischen EU-Mitglied ist, sei die Lage immer noch schwierig, so Rath. Mit vielen Kontakten zu Kirchengemeinden vor Ort und einem großen Netzwerk an Mitarbeitenden und Freunden in Bulgarien und in Deutschland sind nützliche Strukturen und weitere Projekte entstanden.

Denn von Anfang an ging es um mehr als um Materielles. Der verwitwete Evangelist Ernst Rath wurde immer wieder zu Predigtdiensten in bulgarische Gemeinden eingeladen. Dabei lernte er seine heutige Frau Katja kennen, die Germanistik studiert hatte, aber mangels Parteibuch ihren Beruf lange nicht ausüben konnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie wenig Sprachpraxis und war nicht begeistert von der Bitte der Gemeindeleitung, als Dolmetscherin für Raths Gastpredigt einzuspringen. Aber es klappte überraschend gut, erinnern sich die beiden.

So manche Roma-Siedlung in Bulgarien wird sogar von der Polizei gemieden. Doch auch dort gibt es christliche Gemeinden, zu denen das Ehepaar Rath Kontakte pflegt. In Pasardjik ist der Roma-Pastor zugleich Boxer und Respektsperson unter seinen Landsleuten. Er begleitete seine Gäste zur Kirche und wieder zurück, nachdem der Taxifahrer sich geweigert hatte, in die Siedlung hineinzufahren.

Bei den Sommerfreizeiten für Kinder und Teens, die das Hilfswerk auf Anregung des Gustav-Adolf-Werks seit 1998 unter der Leitung von Katja Rath durchführt, sind bulgarische und romanesische Mitarbeitende gemeinsam für die Jungen und Mädchen da. In Hissar, der Kurstadt mit den 26 Heilquellen und schönen Parks, genießen die jungen Menschen aus sozial schwachen Verhältnissen kostenlos eine unbeschwerte Zeit mit gutem und gesundem Essen, Spiel, Sport und Spaß, biblischen Geschichten, Liedern und Kreativangeboten. Freundschaften entstehen. „Viele entdecken ihre Talente und neue Möglichkeiten“, sagt Katja Rath.

Insbesondere für Roma-Mädchen, die traditionell nicht selbstbestimmt seien und oft früh einem Mann versprochen würden, sei dies eine wichtige Erfahrung. Die Kinder und Teens würden auch nach der Freizeit durch die ehrenamtlichen Mitarbeitenden begleitet. „Ich wünsche mir, dass das bulgarische Volk langsam zu einer Einheit wächst“, sagt die 64-jährige Murrhardterin, die etwa 120 Tage im Jahr in Bulgarien tätig ist.

Dabei unterstützt sie auch die Verteilung von 45.000 Losungsbüchern, die Bibelsprüche enthalten. Die Bücher werden von einer kleinen Druckerei an der Donau, wo das Land an Rumänien grenzt, abgeholt und erreichen mit einer ausgeklügelten Logistik zahlreiche Gemeinden. Seit 25 Jahren übersetzt Katja Rath in Murrhardt in den Wintermonaten die „Losungen – Gottes Wort für jeden Tag“ in ihre Muttersprache und lässt sie vor dem Druck von einer Fachfrau für bulgarische Literatur intensiv prüfen.

Den Anstoß zu diesem Projekt gab Pantscho, ein bulgarischer Drucker, der 1997 nach Deutschland kam, um eine gebrauchte Druckmaschine zu kaufen. Seine Gastgeber in Burgstetten-Burgstall (Rems-Murr-Kreis) lasen jeden Morgen am Frühstückstisch die Losung – je einen Vers aus dem Alten und Neuen Testament mit einer Liedstrophe oder einem kurzen Gebet. Die Reaktion von Pantscho, der keine Ahnung vom christlichen Glauben hatte: „Das sind ja wunderbare Worte – können wir die nicht in der bulgarischen Sprache haben?“ (0355/18.02.2024)