Seit mehreren Jahren untersucht eine Studie, “wie wir wirklich leben”. Die aktuelle Ausgabe zeigt eine Verlagerung der gesellschaftlichen Gewichte: Mehr Menschen fühlen sich überfordert. Doch es gibt auch Hoffnung.
Manche Tiefeninterviews, die für wissenschaftliche Studien geführt werden, stellen die Forschenden vor Herausforderungen. Denn mancher Befragte “ist fast nicht mehr zu verstehen”, erklärt Psychologe Uwe Hambrock: weil sich die Betreffenden ihre eigene Realität gezimmert haben, bestimmte Fragen nicht gelten lassen, Argumente jenseits der eigenen Wahrnehmung ebenso wenig.
Hambrock leitet die Studie “Wie wir wirklich leben”, die das Kölner Rheingold-Institut gemeinsam mit dem Tabakkonzern Philip Morris durchgeführt und am Mittwoch vorgestellt hat. Ein Ergebnis: Der Anteil derjenigen, die gesellschaftspolitisch als “enttäuschte Radikale” eingestuft werden, ist sprunghaft angestiegen. Hatte er zwischen 2020 und 2022 relativ konstant zwischen 12 und 14 Prozent gelegen, wuchs er im vergangenen Jahr auf 20 Prozent an. “Das passt zum starken Zuspruch für die AfD”, erklärt der Experte.
Denn die “enttäuschten Radikalen” seien frustriert, fühlten sich vernachlässigt, erwarteten einerseits von der Politik, alle Probleme in ihrem Sinne zu lösen, lehnten andererseits aber jegliche “Bevormundung” ab. Als weniger eindeutig beschreibt die Studie die Gruppe der “überforderten Ängstlichen”, deren Anteil ebenfalls auf ein Fünftel gestiegen ist (2022: 16 Prozent). Während die “enttäuschten Radikalen” etwa Klimaschutz und Migration ablehnten, seien die “überforderten Ängstlichen” von diesen Themen eher beunruhigt und fühlten sich in ihren Nöten nicht gesehen, so Hambrock.
Nicht zu vernachlässigen seien zudem die “desinteressiert Zurückgezogenen”. Mit neun Prozent bildet diese Gruppe zwar die kleinste – allerdings eine, die den klassischen Medien misstraue und das Gefühl habe, dass die Politik nichts mit dem eigenen Leben zu tun habe. Und selbst von den “zufrieden Moderaten” (29 Prozent) seien zuletzt häufig besorgte Sätze zu hören gewesen wie: “Deutschland könnte den Bach runtergehen.”
Als angeknackst beschreibt die Studie den Typus der “engagierten Optimisten”: Dieser Gruppen seien 22 Prozent zuzurechnen (2022: 29 Prozent; 2021: 27 Prozent). Sie zeichne sich dadurch aus, dass Missstände angesprochen würden, der Blick auf die Welt jedoch offen bleibe – auch durch die Überzeugung, dass ein Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen zur Demokratie dazugehört. Hambrock: “Das ist die Hauptgruppe, die bei den jüngsten Demonstrationen gegen Rechtsextremismus anzutreffen war.”
Könnte diese Gruppe also künftig wieder größer werden? Eine weitere, sogenannte Blitzstudie des Instituts nährt diese Hoffnung. Viele Demo-Teilnehmende hätten zuvor das Gefühl gehabt, in einem krisenhaften Alltag festzustecken, sagt der Psychologe und Gründer des Marktforschungsinstituts, Stephan Grünewald. Die “Potsdamer Runde mit völkischen Tabubrüchen” habe hier wie ein Weckruf gewirkt.
Nach Recherchen des Netzwerks Correctiv war ein Treffen Rechtsextremer im November in Potsdam bekanntgeworden, an dem auch hochrangige AfD-Mitglieder teilnahmen. Dabei sei es unter dem Schlagwort “Remigration” (Rückwanderung) um eine Strategie für eine massenhafte Umsiedlung von Migrantinnen und Migranten gegangen. Nach Bekanntwerden der Recherchen demonstrierten zuletzt Hunderttausende Menschen gegen Rechtsextremismus.
29 Prozent der Befragten können sich demnach vorstellen, künftig wieder an entsprechenden Demos teilzunehmen. Eine Mehrheit von 70 Prozent kritisierte die “mitunter zänkische Haltung” der Ampel-Regierung als mitverantwortlich für das Erstarken der AfD, wie es weiter hieß. Erwartet würden vielmehr eine “konstruktive Problemlösungshaltung” sowie Möglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger, konkret etwas zum Gelingen der Demokratie beizutragen.
Die Psychologin Birgit Langebartels berichtete zudem vom Wunsch nach Möglichkeiten zum Austausch. Begegnungen mit Menschen, mit denen man sonst weniger zu tun hätte, könnten zu neuer Zuversicht führen. Darüber hinaus hätten die Befragten über alle Parteigrenzen hinweg eine hohe Belastung im Alltag beschrieben, konkret etwa die Angst vor einem sozialen Abstieg oder Bedauern über eine sich ausbreitende soziale Kälte. Langebartels: “Die Krisenkaskade ist deutlich spürbar.”