Mit seinem Amtsverzicht im Februar 2013 hat der emeritierte Papst Benedikt XVI. eine Tür in der fast 2000-jährigen Geschichte des Papsttums aufgestoßen. Volker Reinhardt (62), Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg in der Schweiz, hat mit „Pontifex“ soeben eine monumentale Papstgeschichte von Petrus bis Franziskus vorgelegt. Im Interview mit Alexander Brüggemann spricht er über päpstliche Archetypen und Kontinuitäten.
► Herr Professor Reinhardt, Sie haben soeben eine knapp 1000 Seiten umfassende Geschichte der Päpste in einem Band vorgelegt – ein Mammutprojekt für einen einzelnen Wissenschaftler. Warum?
Wenn man sich über 40 Jahre mit Päpsten aus verschiedenen Jahrhunderten beschäftigt hat, dann reizt einen eine Synthese. Dann möchte man die großen Entwicklungslinien, die ganz langen Bögen, die Leitmotive nachzeichnen, die sich über sehr lange Zeiträume zeigen. Es ist ein Wagnis, ja – aber es juckt in den Fingern, über die Epochenränder und Zeitabschnitte hinauszusehen. Da wird man gerade beim Papsttum fündig.
► Haben Sie einen bestimmten Ansatz verfolgt, um 2000 Jahre auf 1000 Seiten zu komprimieren?
Ja. Das Papsttum selbst versteht sich ja im Kern als über der Geschichte stehend – auch wenn es natürlich immer in der Geschichte steht. Diese Selbstdarstellung einer Veränderungslosigkeit wollte ich historisch überprüfen und sehen, wie oft sich diese Institution doch immer wieder selbst erneuern und neu erfinden musste; wie sie nach neuen Medien, nach neuen Kommunikationsformen suchen musste. Wie sie ein Amtsverständnis ausbildete, Ansprüche formulierte und dann, in sehr unterschiedlichen Zeiten, versuchte, dieses Amtsverständnis und die entsprechenden Ansprüche aufrechtzuerhalten. Das ergibt letztlich eine Sicht der europäischen und der über Europa hinausreichenden Geschichte von einem besonders faszinierenden Standpunkt aus.
► Ihr Spezialgebiet ist die Frühe Neuzeit, und die Papstgeschichte hat so viele Epochen und so viele umstrittene Forschungsgebiete – denken wir allein nur an die ersten vier Jahrhunderte. Das sind dicke Bretter. Wie lange haben Sie gebohrt?
Die Frage ist doppelt zu beantworten. In gewisser Weise 42 Jahre – denn so lange beschäftige ich mich mit Papstgeschichte. Die Konzipierung im Kopf und die Niederschrift sind natürlich schneller gegangen. Letztlich sind es Gedanken, Argumentationen und Kombinationen, die sich aus zwei Drittel meiner Lebenszeit und meiner gesamten Zeit als Historiker ergeben. So etwas muss reifen. Ich habe das Buch natürlich Fachkollegen zu lesen gegeben – aus einem Grund, den Sie angedeutet haben. Ich habe überwiegend mit Quellen vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert gearbeitet. Die Abschnitte, die mir von der Zeit und natürlich auch von der Persönlichkeit der Päpste am fernsten waren, habe ich von Fachkollegen prüfen lassen. Das muss sein bei einer solchen Arbeit.
► Gibt es nach Ihrer Wahrnehmung die eine Vision vom Papstamt, die sich durch zwei Jahrtausende trägt?
Nein – das Amt selbst muss sich ja erst einmal ausbilden. Das dauert ein paar Jahrhunderte. Von einem Papst im späteren Amtsverständnis kann man sicher erst ab etwa 370 sprechen. Etwas später sind dann die wesentlichen Säulen dieses Amtsverständnisses errichtet: uneingeschränkte monarchische Hoheit über die Kirche; Rechtsprechungshoheit; der Anspruch, über den weltlichen Gewalten zu stehen und diese notfalls zu bestrafen. Die Ausbildung des sogenannten Kirchenstaates in Mittelitalien dauert dann noch mal einige Jahrhunderte. Das Faszinierende ist, dass man auch in schlechten Zeiten, in den Talsohlen der Geschichte, in denen der Papst kaum über Rom hinausreicht, an diesen Ansprüchen und dem Amt festhält.
► Sehen Sie diese Ansprüche, die die Päpste formuliert oder sich erarbeitet haben, bis heute ungebrochen?
Was die Hoheit in der Kirche angeht, sicherlich. Der Papst ist bis heute die letzte Instanz, gegen die es keinen Appell mehr gibt – auch wenn man diese Hoheit sicher kollegialer und weniger schroff durchsetzt als früher. Der Kirchenstaat ist stark geschrumpft; es gibt ihn aber weiterhin. Die interessanteste Frage ist, was die Stellung des Papstes zu den weltlichen Herrschern angeht. Natürlich ist das nicht mehr dieselbe Haltung wie unter Gregor VII., der einen Kaiser einfach absetzte, weil er gegen Gebote der Kirche verstoßen hatte. Das Papsttum hält aber an einem moralischen Anspruch dieser Art fest. Die Kirche versteht sich als moralische Instanz über der weltlichen Gewalt und ihren Akteuren stehend – weil sie aus dieser Position glaubt, sich den zerstörerischen Elementen der Geschichte entgegensetzen zu können.
► Siehe die Reden der Päpste vor den Vereinigten Nationen…
Ja, genau. Dahinter steht der Wahrheitsanspruch einer Kirche, die sich letztlich als überzeitlich versteht; die bis zum Ende der Zeiten ihre Wächter-, Kontroll- und auch Mahnerfunktion wahrnehmen muss. Dieser zweite Primat, der sich früher in der Absetzung von Kaisern und Königen sehr schroff manifestierte, ist hier durchaus noch erkennbar.
► Über Jahrhunderte – vom Anspruch her eigentlich immer – war der Papst auf Lebenszeit gewählt. Ist der Amtsverzicht von Benedikt XVI., der dieser Tage 90 Jahre alt wird, mit Blick auf 2000 Jahre Papstgeschichte tatsächlich historisch?
Es gibt ja den berühmten Präzedenzfall von 1294, als ein ebenfalls sehr bejahrter Papst zurücktrat, weil er sich den vielfältigen, auch sehr weltlichen und monetären Aufgaben nicht gewachsen fühlte, die schon damals mit dem Papsttum verbunden waren – und der auch wohl seine moralische Integrität in Gefahr sah. Dieser Rücktritt Coelestins V. ist damals auch in der Öffentlichkeit sehr kontrovers diskutiert worden. Vor allem die radikaleren Befürworter einer konsequenten Armut der Kirche gingen davon aus, dass er zu diesem Rücktritt gedrängt oder gezwungen worden sei. Aber dem ist sicher nicht so. Man kann natürlich auch beweisen, dass manche Päpste, die in sehr hohem Alter starben, in den letzten Monaten oder Jahren de facto eigentlich gar nicht mehr regiert haben. Dann sind meist Kardinalnepoten eingesprungen, also die wichtigsten Blutsverwandten des Papstes. Solche verschleierten Rücktritte hat es sicher gegeben.
► Aber hat nicht trotzdem Benedikt XVI. eine Tür aufgestoßen?
Natürlich kann das ein Schritt zu einem im weitesten Sinn befristeten Amtsverständnis sein. Das ist in der Geschichte der Päpste so nicht angelegt. Das Amt des Stellvertreters Christi auf Erden konnte man sich bis dato eigentlich nur unbefristet vorstellen. Man ging davon aus, dass eine solche Mittleraufgabe zwischen Gott und dem Menschen nicht wie mit der Pensionierung eines Beamten enden könnte – eben weil dieses Amt weit über alles Menschliche, alles Irdische herausgehoben war. Insofern wird mit dem Amtsverzicht Benedikts XVI. jetzt wieder mehr das Menschliche am Papst betont. Das Papstamt schwankt ja immer zwischen diesen beiden Extremen: einem Papst, dem nicht Menschliches fremd ist, und einem asketischen, weltabgewandten. Den Römern war ein menschlicher Papst immer sehr viel lieber. Sie hatten Angst vor zu ernsten Mönchen auf dem Thron.
► Wagen Sie schon ein historisches Urteil über Papst Franziskus? Ist die Rolle neu, die er spielt: der Revolutionär auf dem Papstthron?
Nein, diese Rolle ist ganz sicher nicht neu. Sie ist authentisch, und sie passt zur Persönlichkeit dieses Papstes – aber im Laufe der Geschichte haben sich diverse Rollenmuster herausgebildet, fast schon Drehbücher. Eine Klassikerrolle ist der Papst gegen seinen seelenlosen, bürokratischen Apparat. Der Papst geht bewusst auf Distanz zu den administrativen, auch finanziellen Aufgaben und Machenschaften der Kurie. Benedikt XIV. (1740-1758) etwa ist ganz ähnlich aufgetreten wie Franziskus: ein plaudernder Papst zum Anfassen. Dass es historische Vorbilder gibt, soll aber in keiner Weise Papst Franziskus als authentische Persönlichkeit infrage stellen. Er hat sich diese Rolle nach seiner Neigung ausgesucht.