Für den Bundespräsidenten ist ein Aufarbeiten der Corona-Pandemie unabdingbar. Nur über Transparenz könne verlorenes Demokratie-Vertrauen zurückgewonnen werden. Das Klima sei rauer geworden. Sündenböcke brauche es keine.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier drängt auf eine Aufarbeitung der Corona-Pandemie ohne Suche nach Sündenböcken. “Ich halte es für unabdingbar, Transparenz herzustellen und damit möglichst viele Menschen zurückzugewinnen, die in der Zeit der Pandemie an der Demokratie gezweifelt haben und ihr jetzt vielleicht gar nicht mehr vertrauen”, sagte Steinmeier am Freitag bei einer Diskussionsveranstaltung zu Lehren aus Corona.
Zugleich beklagte der Bundespräsident, dass das Klima nach der Pandemie rauer geworden sei. Es gebe mehr Positionen, die sich unversöhnlich gegenüberstünden. “Kompromisslosigkeit ist vielleicht auch ein neues Signum dieser Zeit geworden”, so Steinmeier. Das mache Politik nicht einfacher. Umso wichtiger sei es, gegen eine gewachsene Skepsis gegenüber der Demokratie anzuarbeiten. Zugleich habe es ein bemerkenswertes Engagement und Hilfsbereitschaft gegeben. Er hatte gehofft, dass dies auch in der Nach-Pandemie-Zeit erhalten bliebe, fügte Steinmeier an.
Manches sei in dieser Ausnahmesituation gut, manches weniger gut gelaufen, manches habe geschadet. Letztlich seien die Maßnahmen auf Grundlage des damaligen Kenntnisstandes getroffen worden und es sei immer um eines gegangen: “möglichst viele Menschenleben zu retten”. Das sei auch gelungen, betonte Steinmeier und fügte hinzu: “Dennoch: Auch wir haben mehr als 180.000 Tote zu beklagen.” Und es habe Versehrungen und Verletzungen gegeben, bei Älteren und vielen Jugendlichen und Kindern.
Es sollte bei einer Aufarbeitung nicht vordergründig um eine Suche nach Schuldigen und Sündenböcken gehen. “Das bringt uns nicht weiter, im Gegenteil, das würde nur zu neuen Verhärtungen führen”, so Steinmeier weiter. Ziel müssten der Schutz der Demokratie und eine höhere Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft für künftige Krisen sein. “Ich glaube, dass eine Aufarbeitung eine riesige Chance ist, und vertraue darauf, dass der neue Bundestag und die neue Bundesregierung diese Chance auch sehen werden”, bekräftigte der Bundespräsident.
Ralf Broß, ehemaliger Oberbürgermeister von Rottweil in Baden-Württemberg, bestätigte aus seiner Erfahrung ein gesunkenes Vertrauen in öffentliche Institutionen. Darüber hinaus sei der politische Diskurs schwieriger geworden. Es würden immer öfter Argumente angeführt, die rational nicht nachvollziehbar seien. Die Leiterin einer Grundschule in Paderborn, Maxi Brautmeier-Ulrich, erinnerte daran, dass die Folgen bei Kindern und Jugendlichen erst jetzt ansatzweise absehbar würden, etwa Ängste, fehlende Sprachentwicklung oder Sozialkompetenzen.
Der Leiter der Infektiologe an der Charité Berlin, Leif Erik Sander, berichtete, dass einerseits das Wissen der Bevölkerung über gesundheitliche Zusammenhänge gestiegen sei. Dazu hätten auch die Medien durch eine gute Wissenschaftskommunikation beigetragen. Andererseits sei die Polarisierung und Spaltung in unterschiedliche Lager wie durch einen Katalysator befeuert worden. Zugleich machten ihm andere Notlagen im Gesundheitssystem, etwa wirtschaftliche, Sorgen, so Sander.