Protestanten in aller Welt feiern 2017 das 500. Reformationsjubiläum. Auch für den scheidenden Bundespräsidenten Joachim Gauck ist Martin Luther eine herausragende Figur. Eine welthistorische Leistung habe der Reformator vollbracht, meint Gauck, der früher Pfarrer in Rostock war. Mit Corinna Buschow und Thomas Schiller sprach er über das Vorbild Luther, über das Jubiläum und über seine persönlichen religiösen Erfahrungen.
Herr Bundespräsident, am 31. Oktober 2016 wurde das Jubiläumsjahr zur Feier des 500. Reformationsjubiläums eröffnet. Sie waren selbst evangelischer Pfarrer. Was fasziniert Sie an Luther?
Angefangen hat es mit dem Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“. Schon als relativ kleiner Junge, geboren im Krieg und als Schüler in der DDR-Diktatur, erlebte ich, wie eine ganze Gesellschaft aus Angst Anpassungsmechanismen entwickelte und ihre Knie beugte vor den Herren dieser Welt. Und dann lernte ich in der Christenlehre: „Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen, er hilft uns frei aus aller Not“ – das war stark. Es vermittelte Selbstvertrauen gegenüber den gleichen Herren dieser Welt. So kam, lange bevor ich mich theologisch mit der Rolle Martin Luthers befasst habe, eine frühe Prägung einfach durch einen Choral aus dem Gesangbuch. So etwas lagert sich tief ein in der Seele eines Menschen.
Luther war ein Kind seiner Zeit, heute stehen sein Verhältnis zur Obrigkeit und seine antisemitischen Äußerungen in der Kritik. Kann der Reformator dennoch als Vorbild gelten?
Luther hat einen Epochenwandel hin zur Moderne angestoßen – ich denke schon, dass er Vorbild sein kann. Auch wenn uns antijudaistische oder gar antisemitische Haltungen bestürzen und wir sie strikt ablehnen: Wir sollten historische Figuren in ihrer Zeit und vor allem in deren Denkmustern sehen und verstehen. Luther hatte zum Beispiel einen Zug seiner Zeit an sich, der als Grobianismus bezeichnet wird. Den wendet er überall an. Und da ist er nicht der Einzige, wenn wir Literatur und Predigten aus diesen Jahren anschauen. Wichtig bleibt dennoch, dass die evangelische Kirche in Deutschland die Augen nicht vor den Fehlern und Verstrickungen der Reformatoren und der reformatorischen Kirchen verschließt und auch die unselige Wirkungsgeschichte aus dem Schatten ins Licht geholt worden ist.
Worin besteht Luthers Leistung?
Luther hat eine welthistorische Leistung vollbracht. So ein mittelalterlich geformter Christ, noch geprägt von der Furcht vor dem Teufel, entwickelt Schritt für Schritt eine Sicht auf den einzelnen Menschen, die mit einem ganzen Weltbild bricht. Das ist eigentlich der Beginn der Moderne. Er rückt die Rolle des Individuums ins Zentrum. Auch seine Idee des Priestertums aller Gläubigen ist eein unglaublicher Protest gegen eine Jahrhunderte lang fest gefügte Institution und gegen kirchliche Obrigkeit. Er hat damit den Weg zur Idee der Würde jedes einzelnen Menschen gebahnt.
Ist Luthers Prinzip von der „Freiheit eines Christenmenschen“, der niemandem und zugleich jedermann untertan sein soll, eine brauchbare Leitschnur für Politiker?
Luthers Schriften kann man sicher nicht eins zu eins in politisches Handeln übersetzen. Wir sollten vor allem sehen, dass Politik heute Wertvorstellungen hat, nach denen sie handelt und so die kleinen Schritte zum Besseren gestaltet. Und hier kann Luthers Verständnis von der Freiheit, die eben nicht nur Freiheit von etwas, sondern vor allem Freiheit zu etwas ist, sicher als Orientierung dienen.
Erleben wir derzeit eine Zunahme des Destruktiven?
Auch wenn wir das als Phase derzeit erleben und sehr ernst nehmen müssen: Der Blick in unsere Geschichte kann uns etwas gelassener sein lassen, als wir es manchmal sind. Denken wir an die frühen Auseinandersetzungen in der alten Bundesrepublik, an den Streit um die Wiederbewaffnung, die Westbindung, die schlimmen Zeiten des RAF-Terrorismus. Das war teilweise beunruhigender und bedrückender als die gesellschaftlichen Verhältnisse in unserem Land heute.
Und wo stehen wir heute?
Wir befinden uns in einer Zeit, in der allzu oft Anstandsregeln und Respekt missachtet werden, dem Andersdenkenden nicht mit dem Argument begegnet wird, sondern teilweise mit Bosheit und Hass. Die dahinterliegende Wut passt aber so gar nicht zu den Verhältnissen, in denen wir heute leben: Zu der Rechtssicherheit, zu unseren stabilen Institutionen, zu der sozialen Sicherheit, zu Demokratie und der Freiheit jedes einzel nen – so wie wir es niemals zuvor in Deutschland hatten.
Wie soll man mit dieser veränderten Situation umgehen?
Wir – also alle politisch Verantwortlichen, aber auch jeder Bürger, dem ein friedliches und zivilisiertes Miteinander am Herzen liegt – müssen den Leuten sagen: Schaut eure Ängste an und schaut die Realität an und vergleicht beides. Außerdem dürfen die Menschen nicht unter sich bleiben mit ihrer Furcht vor Veränderung, vor dem Risiko und vor dem Fremden. Sonst kommt es zu den Prozessen einer sich steigernden inneren Erregung, vor allem auch durch die sozialen Medien. Das bricht dann irgendwann heraus und explodiert.
Ein Motto Ihres Vorgängers Johannes Rau hieß „Versöhnen statt spalten“. Aber was tun mit Menschen, die unversöhnlich sind?
Wenn Leute hasserfüllt und aggressiv zum Ausdruck bringen, dass Politiker ganz generell Abschaum sind – so wie ich das am Tag der Deutschen Einheit in Dresden erlebt habe –, dann ist die Kultur des Diskurses verlassen. Bei aller Dialogbereitschaft ist da eine Grenze erreicht.
Wenn Integration gelingen soll, hängt das stark ab vom bürgerschaftlichen Engagement. Wie beurteilen Sie die Leistung der Zivilgesellschaft?
Zu unserem Land gehört ein Netzwerk hoch engagierter Menschen. In jedem Ort dieses Landes leben Menschen, die sich nicht nur um sich kümmern, sondern um das Gemeinwesen, die freiwillig Not lindern wollen oder sozial Schwachen helfen. Für mich ist es übrigens Inspiration und Kraftquelle, diesen Menschen zu begegnen. In Deutschland gibt es ein außerordentliches Maß an Hilfsbereitschaft. Das beeindruckt mich immer wieder sehr.
Worin wurzelt diese Stärke?
Da muss man wohl ganz besonders die Demokratisierung in den westlichen Bundesländern hervorheben. In mehreren Jahrzehnten hat sich ein echtes Bürgerbewusstsein in einer Bürgergesellschaft entwickelt. Der Osten konnte diesen Prozess lange Zeit nicht durchmachen, weil er in einer formierten Gesellschaft gelebt hat. Gerade deshalb sind dort die Freiwilligen und Engagierten besonders zu loben.
Hätte es nach 1990 einer anderen Form der Erziehung zur Demokratie im Osten bedurft?
Nein, das glaube ich nicht – in der Zeit des Übergangs nahmen viele Menschen Plätze ein, die ihnen vorher verschlossen waren: Sie wurden Abgeordnete, Bürgermeister, Unternehmer. Andere machten sich nicht auf den auch mühsamen Weg der Demokratie. Sie waren eher geprägt von Mutlosigkeit, wie es viele Seelen in der Diktatur sind. Im Osten befindet sich ein Teil der Gesellschaft noch in einem Veränderungsprozess. Wir haben zwei nicht identische politische Kulturen im wiedervereinigten Deutschland. Das wird noch eine gewisse Zeit so bleiben.