Von Petra Bahr
Seit heute Morgen stehe ich nun schon an dieser Kante und schaue in die Tiefe. Seit mehreren Stunden schiebe ich meinen Fuß drei Zentimeter Richtung Abgrund, beuge den Oberkörper vor, immer der Nasenspitze nach, spanne die Muskeln an wie zum Sprung – und ziehe mich dann auf einen sicheren Abstand zurück. Die Adrenalinstöße kommen in langsameren Intervallen. Mein Herzschlag beruhigt sich.„Feigling, Feigling“, ruft eine Stimme von links hinten. Sie muss in meinem Kopf wohnen, ich habe sie vorher noch nie gehört. Eine schrille Nervensäge. So muss es den Bungee-Jumpern gehen, den Turmspringern, Kliffturnern und all den anderen Extremsportlern, kurz bevor sie sich ins Abenteuer stürzen. Ich kenne sie nur aus dem Sportkanal im Fernsehen. Eine lächerliche Neigung, das Leben herauszufordern, fand ich immer. Warum sollte man sich von Brücken stürzen, wenn man auch den Trampelpfad nach unten nehmen kann? Sie ahnen es schon. Meine Sportarten sind eher Nordic-Walking im Stadtpark oder Brustschwimmen im vorgeheizten Pool. Es könnte mir jemand einen Schubs geben. Oder ich könnte ausrutschen. Dann würde ich die Arme ausbreiten und kopfüber durch die Luft stürzen, in diese unbekannte Richtung, nach unten. Die Spekulationen über Fallhöhen und mögliche Konsequenzen für den Einschlag würden mit den Bedenken verfliegen. Denn dafür wäre keine Zeit. Es bliebe mir nichts übrig als der Anziehungskraft zu trauen. Selbst wenn ich mich widersetzte, würde ich aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwie ankommen. Eine Heldin wäre ich natürlich nicht, eher eine Verunfallte, die sich hoffentlich beim Sturz nicht alle Knochen bricht. Aber immerhin, ich stünde nicht mehr an dieser Bruchkante der Gegenwart, die sich seit Stunden quälend in die Länge zieht. Möglich wären natürlich auch die berühmten Glücksgefühle, die jene Muskelmänner beschreiben, wenn sie mit verschwitztem Gesicht und blitzenden Augen in die Kamera schauen, um von ihren Stürzen in die Luft zu berichten.