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Soundtrack der französisch-deutschen Aussöhnung

Eigentlich will die französische Musikerin Barbara nie in Deutschland auftreten. 1930 in Paris als Tochter jüdischer Eltern geboren, muss sie sich ab 1940 vor den Nazis und dem mit ihnen kollaborierenden Vichy-Regime verstecken und immer wieder umziehen. „Die Familie wurde auseinandergerissen und fand erst nach Kriegsende wieder zusammen“, erzählt Andrea Rechenberg, langjährige Leiterin des Städtischen Museums Göttingen, das Barbara 2016 eine eigene Ausstellung gewidmet hat.

Aber 1964 kommt sie doch nach Deutschland, nach Göttingen. Es ist für die Chanson-Sängerin, die eigentlich Monique Andree Serf heißt, ein Jahr im Umbruch. Sie wechselt die Plattenfirma, komponiert und textet ihre Chansons zunehmend selbst. Ist sie bis dahin vor allem in kleinen Clubs aufgetreten, singt sie nun auch in großen Sälen und im französischen Fernsehen – und kehrt doch immer wieder zu ihrem Stammpublikum im kleinen Pariser Cabaret de l’Écluse zurück.

Dort sitzt oft auch Hans-Gunther Klein, der Leiter des Jungen Theaters Göttingen. Es wurde 1957 als kleines Zimmertheater und Alternative zum etablierten Deutschen Theater gegründet, hier laufen wenig gespielte, moderne Stücke.

Klein bekniet Barbara, nach Göttingen zu kommen und im Jungen Theater zu singen. Schließlich stimmt sie für drei Auftritte zu, am 4., 5. und 6. Juli 1964. „Ich reise also nach Göttingen“, schreibt sie später in ihren Memoiren. „Allein und immer noch wütend, dass ich überhaupt zugesagt habe, in Deutschland zu singen.“

Der Besuch beginnt mit Pannen. Das Flugzeug kommt verspätet in Hannover an, Barbara erreicht erst zwei Stunden vor dem angekündigten Auftritt das Junge Theater. Und auf der Bühne steht statt des vertraglich zugesicherten Flügels ein riesiges Klavier. Barbara beschreibt die Situation so: „Als ich mich vor diesem Koloss auf einen Klavierhocker setze, kann ich nur einen kleinen Teil des Saales sehen … Ich gehe in den Saal und setze mich in die erste Reihe. Ich wiederhole, dass ich mich von dort nicht wegbewegen werde, wenn ich den versprochenen Konzertflügel nicht bekomme.“

Da hat jemand die rettende Idee: Im ersten Stock des Hauses wohnt die Vermieterin, sie besitzt einen gestimmten Flügel und stimmt zu, das Instrument zu verleihen. Zehn Studenten schrauben die Beine ab und schleppen das schwere Teil durch das Treppenhaus. Fotos zeigen, wie die jungen Männer den Flügel auf die Bühne wuchten und Barbara seine richtige Position überprüft.

Das Konzert wird ein Riesenerfolg, ebenso die Auftritte an den folgenden Tagen. Barbara lässt sie sich durch die Stadt führen, die sie eigentlich nie sehen wollte. Sie besichtigt das frühere Wohnhaus der Brüder Grimm, begleitet Hans-Gunther Klein im Auto durch die sommerliche Landschaft.

Beseelt von ihren Eindrücken, sitzt sie am Nachmittag des 6. Juli im Garten des Jungen Theaters und schreibt die ersten Zeilen des Göttingen-Liedes: „Selbstverständlich gibt es keine Seine. Und es ist weit von den Wäldern von Suresnes. Aber es ist trotzdem sehr schön in Göttingen …“. Das Chanson ist zugleich eine Danksagung an ihre Gastgeber und ein Manifest gegen den Krieg. Am letzten Abend ihres Aufenthalts trägt Barbara als Zugabe den ersten Entwurf des noch unvollendeten Stückes vor. Das Publikum jubelt.

Am 28. Juli 1964 schreibt Barbara an Hans-Gunther Klein. „Ich habe meine Tage in Göttingen in bewegender und lebhafter Erinnerung … Ich nehme ‘Göttingen’ im September auf, und selbstverständlich schicke ich ihnen die erste Platte.“ In Frankreich singt und spielt Barbara das Lied bei vielen Konzerten, 1965 schafft es „Göttingen“ in die französische Hitparade.

Es dauert bis zum 4. Oktober 1967, bis der Chanson-Star nach Göttingen zurückkehrt und in der neuen Stadthalle ein Konzert gibt. Es wird in Frankreich zu einem Medienereignis: Der Radiosender France Inter berichtet den ganzen Tag live aus Göttingen.

Im Garten des Jungen Theaters, in dem sie das Lied schrieb, gibt Barbara Interviews. „Ich verdanke dieses Chanson der Beharrlichkeit von Hans-Gunther Klein, zehn Studenten, einer mitfühlenden alten Dame. Den kleinen blonden Kindern Göttingens, einem tiefen Verlangen nach Aussöhnung, aber nicht des Vergessens“, sagt sie.

Abends in der Stadthalle singt Barbara „Göttingen“ auf Französisch und auf Deutsch. Den deutschen Text muss sie ablesen. Beim Umblättern der Seiten hilft der Student Dieter Blank. Er war 1964 einer der Flügelträger. Ein Audio-Mitschnitt des Konzerts wird im Göttinger Stadtarchiv verwahrt.

Im Jahr vor Barbaras erstem Auftritt in Göttingen hat die deutsch-französische Wiederannäherung auch auf politischer Ebene einen Höhepunkt erreicht. Am 22. Januar 1963 wird der Élysée-Vertrag geschlossen. Dem Abkommen folgen weitere, es entstehen Städtepartnerschaften. Bei den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Élysée-Vertrags zitiert Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) aus „Göttingen“. Das Lied, sagt Andrea Rechenberg, gehöre zum „Soundtrack der französisch-deutschen Aussöhnung“.