Dortmund – Es gibt einen Pflegenotstand in Deutschland: Menschen, die der Pflege und Betreuung bedürfen, können nicht ausreichend versorgt werden. Noch dazu sind Pflegeberufe geprägt von Unterbezahlung und Überarbeitung. Fürsorge ist zu einem kostbaren Gut geworden.
Wie ist es dazu gekommen, und wie gehen wir jetzt damit um? – Mit diesen Fragen beschäftigten sich 22 westfälische Theologinnen beim 29. Westfälischen Theologinnentag (WTT) Anfang Februar im Dortmunder Mariengemeindehaus. Gastreferentin Christine Globig, Professorin an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf, erläuterte in ihrem Vortrag zum WTT-Thema „Keine Sorge mit der (Für-)Sorge?“ die ethischen Grundsatzfragen. Diskussionen in Kleingruppen schlossen sich an.
Für Globig hat der Pflegenotstand mehrere Ursachen. Neben demographischem Wandel und marktwirtschaftlicher Organisation der Fürsorge gehört dazu auch ein nur teilweise verändertes Rollenbild: „Fürsorge als Frauenarbeit ist verloren gegangen. Das Problem ist, dass die von Frauen geleistete Fürsorgearbeit immer unsichtbar blieb und sie jetzt für die Pflege Angehöriger keine Zeit mehr haben.“
Globig hat sich die „Sichtbarmachung des Unsichtbaren“ zur Aufgabe gemacht. Weil Frauen trotz eigener Berufstätigkeit oftmals noch für die Fürsorge Angehöriger verantwortlich gemacht würden und sich verantwortlich fühlten, käme es zu einer Menge individueller Probleme, die eigentlich auf struktureller Ebene gelöst werden müssten. Die Professorin diagnostiziert ein doppeltes Fürsorgedefizit: Einerseits gibt es faktische Mängel bei Pflege und Betreuung, andererseits die Bereitschaft, diese Mängel und ihre strukturellen Auslöser zu verbergen.
Zum Nachdenken regten auch ihre Anmerkungen zu ausländischen Fachkräften an: Statt einer gleichmäßigen Verteilung zwischen den Geschlechtern werde die Arbeit von einer Frau einer Nationalität auf eine Frau anderer Nationalität verteilt, die sich ebenfalls eine günstigere Pflegekraft holt, um ihre eigenen Angehörigen zu betreuen. Folge dieser „globalen Sorge-Kette“ sei, dass in anderen Ländern Pflegekräfte fehlen. Das Problem des Pflegenotstands werde so nicht gelöst, sondern nur verschoben.
Ein weiteres Defizit im Umgang mit dem Thema sieht Globig in der evangelischen Ethik. Die Sorgebeziehung passe nicht in das ethische Idealbild vom unabhängigen Menschen. Hier setzt ihr Ansatz für neue Ziele einer Ethik an: „In der Realität ist kein Mensch autonom.“ Diese Abhängigkeit gelte es für die Zukunft zu bejahen und nicht nur als Makel anzusehen. Sorgebedürftig zu sein, gehöre zur Normalität dazu und nicht nur zum Leben älterer und pflegebedürftiger Menschen, sondern auch zu den alltäglichen Sorgebeziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen. Sogar zwischen gesunden Erwachsenen; zwischen Menschen, die einfach füreinander da sind. Denn, so das Fazit der Wissenschaftlerin: „Im Leben geht es nicht ohne Sorgearbeit.“
In Kleingruppen wurde diskutiert, inwiefern (Für-)Sorge im kirchlichen Alltag gelebt wird: ob im Pfarrhaus und der Gemeinde, im Umgang mit Kindern oder älteren Menschen oder aber im gesamten diakonischen Handeln. Die Kirche füllt insgesamt viele Bereiche aus. Vor allem aber in der Arbeit mit Seniorinnen und Senioren wird Handlungsbedarf gesehen.
Globigs Schlusswort stimmten alle zu: „Eine genderbewusste Ethik hat die Chance davon auszugehen, dass auch in der Abhängigkeit Glückserfahrungen möglich sind.“ Eben dafür wurden die WTT-Teilnehmerinnen sensibilisiert.
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Sorgearbeit gehört zum Leben
Pflegeexpertin: nur teilweise verändertes Rollenbild und Idealbild vom unabhängigen Menschen tragen zum Pflegenotstand bei