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Solidarische Sympathie

Wie steht es um die Beziehungen der Kirchen im Jahr der Ökumene 2020/21? Fragen an Konrad Raiser

2020/21 hat die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) zum Jahr der Ökumene ausgerufen. Doch wie ist der Stand der Beziehungen in der weltweiten Ökumene und in Deutschland? Welche Herausforderungen und Diskussionen gibt es? Sibylle Sterzik fragte nach bei Professor Konrad Raiser, dem früheren Generalsekretär des Ökumenischen Weltrates der Kirchen. 

Herr Professor Raiser, in Deutschland liegt mit Blick auf den Ökumenischen Kirchentag im Mai die Abendmahlsfrage oben auf. Leider haben nach dem hoffnungsvollen Votum des Ökumenischen Arbeitskreises erst der Vatikan und jetzt auch der Vorsitzende der Katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, einem ­gemeinsamen Abendmahl eine ­Absage erteilt. Schmerzt Sie das? 

Das ist schon eine herbe Enttäuschung. Aber die Absage kommt ja in der Tat nach dem Schreiben der Glaubenskongregation vom Herbst letzten Jahres nicht ganz unerwartet. Nach dieser Zurückweisung aus Rom konnte Bischof Bätzing nicht anders handeln, obwohl er damit die von ihm selbst vorsichtig genährten Hoffnungen für gemeinsame Gottesdienste beim Ökumenischen Kirchentag dämpfen musste. Man sollte den Vorgang freilich auch nicht ­dramatisieren. Der Ökumenische ­Arbeitskreis, dessen bischöflicher Co-Vorsitzender von katholischer Seite Bischof Bätzing ist, hatte sich ja in seinem Votum „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ darauf beschränkt, für eine Öffnung der konfessionellen Mahlfeiern für Christinnen und Christen aus anderen Traditionen zu plädieren. Auf die in dem Votum entfaltete, sehr überzeugende theologische Begründung ist die Reaktion des Lehramtes aus Rom überhaupt nicht eingegangen, was besonders die katholischen Mitglieder des Ökumenischen Arbeitskreises ­irritiert hat. Aber das gemeinsam verantwortete Programm für den Ökumenischen Kirchentag sieht für Samstag, 15. Mai unter dem Motto „Kommt und seht“ (Johannes 1,39) nach wie vor vier Gottesdienste in Frankfurter Gemeinden vor, in denen „ökumenisch sensibel“ Abendmahl oder Eucharistie gefeiert werden wird. Auch wenn es daher auf katholischer Seite keine offizielle Einladung an alle Getauften zur Teilnahme an der Kommunion geben wird, so werden getaufte Christen aus anderen Kirchen, die an der katholischen Eucharistiefeier teilnehmen, vom Empfang der Kommunion nicht zurückgewiesen werden. Auf evangelischer Seite gilt diese Praxis seit langem.   

Glauben Sie, dass sich die ­Meinungsverschiedenheiten in absehbarer Zeit überwinden lassen? Wenn ja, wie?

Wenn es sich wirklich nur um Meinungsverschiedenheiten handeln würde, dann wären sie längst überwunden worden. Aber bei der Frage der Gemeinschaft am Tisch des Herrn geht es um mehr als eine Meinungsverschiedenheit. Sie berührt das Zentrum kirchlicher ­Identität. Diese Identität ist gerade für die Römisch-Katholische Kirche lehramtlich und kirchenrechtlich abgesichert und wird daher gegen die Zumutung von Veränderungen sowohl von innen wie von außen verteidigt. Ähnliches gilt für andere Kirchen. Aber die Ausdrucksformen kirchlicher Identität sind geschichtlich bedingt. Sie können sich verändern unter dem Einfluss neuer Erfahrungen und Herausforderungen. In der Vollmacht des Geistes kann und wird auch die eigene Identität sich öffnen für die volle Gemeinschaft mit anderen Kirchen.    

Welche positiven Ansätze im ­ökumenischen Gespräch mit der katholischen Kirche sehen Sie?

Unter dem Pontifikat von Papst Franziskus hat sich besonders die Zusammenarbeit zwischen dem ­Vatikan und dem Ökumenischen Rat der Kirchen sehr positiv und ermutigend entwickelt. Das gilt zum ­Beispiel für gemeinsame Aktivitäten im Eintreten für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen, insbesondere im Blick auf Friedensförderung und Migration sowie für den interreligiösen Dialog. Gemeinsam haben der Vatikan und der ÖRK vor zwei Jahren eine „Weltkonferenz gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und populistischen Nationalismus im Kontext globaler Migration“ durchgeführt, an der auch buddhistische, hinduistische und muslimische Vertreter teilnahmen. Die Gemeinsame Arbeitsgruppe zwischen dem ÖRK und der Römisch-Katholischen Kirche nahm den Impuls auf und bereitet ein größeres Studiendokument zum Thema „Migration und Flucht. Ökumenische Herausforderungen und Chancen“ mit Handlungsempfehlungen vor. 

Die COVID-19-Pandemie hat die Weltgemeinschaft getroffen. Um den Herausforderungen zu ­begegnen, riefen ÖRK und Päpst­licher Rat für den inter­religiösen Dialog 2020 in der Er­klärung „Interreligiöse Solidarität im Dienst einer verwundeten Welt“ zu gemeinsamem Handeln auf. ­Welche Reaktionen gab es auf das Papier?

Die Erklärung ist erst im Herbst letzten Jahres im englischen Originaltext veröffentlicht worden. Die Übersetzungen sind sogar erst seit ein paar Wochen verfügbar. Daher gibt es noch kaum öffentliche Reaktionen. Das liegt wohl auch daran, dass die Erklärung sich nicht an der vorherrschenden öffentlichen Diskussion über die „technischen“ Schritte zur Bewältigung der Pandemie beteiligt. Mit dem Stichwort der „verwundeten Welt“ lenkt sie vielmehr den Blick darauf, dass die Pandemie die Verwundbarkeit aller Menschen offenlegt. Unter ihr leiden besonders diejenigen, die ohnedies am Rande leben, das heißt Migranten, Flüchtlinge, Gefangene. Die Erklärung will zunächst das Bewusstsein für unsere Verwundbarkeit schärfen und sie setzt dies um in einen „Aufruf zu neuen Formen der Solidarität über alle Grenzen hinweg“. Dabei nimmt sie die Geschichte vom barmherzigen Samariter auf, die auch in der Enzyklika von Papst Franziskus „Fratelli tutti“ im Zentrum stand. Die mit dieser ­Erklärung unterstrichene enge ­Zusammenarbeit wurde durch den Papst selbst bekräftigt, der im Juni 2018 „als Pilger“ den Ökumenischen Rat besuchte unter dem Motto „Gemeinsam unterwegs sein, beten und arbeiten“.

Die Vorbereitungen zur 11. Voll­versammlung des Ökumenischen Rates vom 31. August bis 8. September 2022 in Karlsruhe laufen auf Hochtouren. Zu dem Motto „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt“ ist jetzt ein vorbereitendes Dokument ­erschienen. Welche Vision ­entwickelt es?

Es ist das erste Mal, dass im Thema einer Vollversammlung von der Liebe und damit vom innersten Zentrum der Wirklichkeit Gottes die Rede ist. Die Liebe Gottes hat in Jesus Christus menschliche Gestalt angenommen. Die in der Pandemie gewachsene Einsicht in die menschliche Verwundbarkeit öffnet den Blick dafür, dass sich die Liebe Gottes im Wirken Jesu vor allem als Erbarmen und Mitgefühl für die Geängstigten und Verlorenen äußert. „Es ist diese Art von Liebe, die Liebe des einen, durch den Gott in der Welt mit all ihrer Verletztheit und Zerrissenheit gegenwärtig geworden ist, die die Kirche und die Welt bewegt“. Am Ende eröffnet das Dokument den Blick für eine „Ökumene der Herzen“, denn Einheit und Liebe gehören zusammen. 

Der Ökumenische Rat der Kirchen steht immer wieder in der Kritik, einseitig für palästinensische Christen Partei zu ergreifen oder gar Sympathie für BDS-Positionen zu vertreten. Wie sehen Sie das?

Der ÖRK ist in erster Linie seinen Mitgliedskirchen verpflichtet. In ­Israel/Palästina sind dies: das Griechisch-Orthodoxe und das Armenisch-Orthodoxe Patriarchat, die Anglikanische und die Evangelisch-Lutherische Kirche. Sofern sie in ihren Rechten eingeschränkt werden oder von den Folgen israelischer Besatzungs- und Siedlungspolitik ­betroffen sind, gilt ihnen die solidarische Unterstützung des ÖRK. Sie hat vor allem im Ökumenischen ­Begleitprogramm für Palästina und Israel (EAPPI) Ausdruck gefunden. Die BDS-Positionen entsprechen Forderungen der palästinensischen Zivilgesellschaft, in der auch Christen aktiv sind. Der ÖRK hat sich ausschließlich für den Boykott von Waren ausgesprochen, die in den völkerrechtlich illegalen israelischen Siedlungen im Westjordanland hergestellt werden.   

Palästinensische Christen vertreten mit Blick auf Maßnahmen des israelischen Staates aufgrund ihrer Erfahrung andere Positionen als Christen in Deutschland, die aufgrund ihrer Erfahrung allen ­Anfängen von Antisemitismus wehren wollen. Ein hochsensibles Terrain. Wie lässt sich angesichts dieser verschiedenen Kontexte eine ökumenische Sprachfähigkeit entwickeln? 

Für die Kirchen in der Gemeinschaft des Ökumenischen Rates gilt nach wie vor die Erklärung der 1. Vollversammlung in Amsterdam 1948, die dazu aufrief, den Antisemitismus „als schlechterdings mit christlichem Bekenntnis und Leben unvereinbar zu verwerfen. Der Antisemitismus ist eine Sünde gegen Gott und Menschen“. Bei der Frage, welche Bedeutung die Verwerfung des Antisemitismus für das christlich-jüdische Verhältnis heute hat, kommen die unterschiedlichen Erfahrungskontexte ins Spiel. Kirchen und Christen in Europa und den USA können dem Gedenken an die Shoa nicht entrinnen und betonen gerade deshalb die wiedergewonnene Einsicht in die besondere Stellung Israels im Heilsplan Gottes.  

Für Kirchen und Christen in ­Palästina und im Mittleren Osten ist die Begegnung mit dem Judentum überlagert von Erfahrungen mit der Politik des Staates Israel und ihren Folgen. Sie sind kritisch gegenüber Bestrebungen, diese Politik religiös zu legitimieren und weisen den Vorwurf des Anti­semitismus zurück, wenn sie die Verletzung von ­menschen- und ­völkerrechtlichen Maßstäben anprangern. Die Spannung zwischen beiden Erfahrungskontexten und ihren Konsequenzen für die gelebte Beziehung von ­Christen und Juden muss um der Aufrichtigkeit willen im ökume­nischen Gespräch aus­gehalten ­werden.