Von Jörg Antoine
Kirchengesang ist Teil des protestantischen Selbstverständnisses und Religionsausübung zugleich. „Wer singt, betet doppelt.“ Umso härter trifft es uns, wenn es in der Berliner Verordnung zur Eindämmung des SARS-CoV-2 schlicht heißt: „In geschlossenen Räumen darf nicht gemeinsam gesungen werden.“
Ob über dieses Verbot viel nachgedacht wurde? Verbietet es nach seinem Wortlaut sogar das Geburtstagsständchen in der Familie. Und ob der Eingriff in die Religionsfreiheit vom Verordnungsgeber überhaupt gesehen wurde? Denn die Religionsfreiheit wird in der Verordnung nicht bei den Grundrechten aufgezählt, in die nach dieser Verordnung eingegriffen wurde. Dieses Versäumnis wäre nur verständlich, wenn wir den Kenntnisstand des Berliner Senats nicht besser wüssten; das heißt, wenn wir von der EKBO nicht im Vorfeld unser Hygienekonzept zum Umgang mit Gemeindegesang und diverse wissenschaftliche Studien zu Gesang und Chorarbeit an den Berliner Senat gegeben hätten.
Zugegeben: Die aktuelle Pandemiesituation ist für alle Seiten eine neue Sachlage, an deren Bewältigung wir uns immer weiter herantasten. Wir lernen, mit diesem Virus umzugehen und uns vor einer Ansteckung zu schützen und zugleich das gesellschaftliche Leben wieder aufzunehmen und aufrecht zu erhalten. Bislang hat die Zusammenarbeit der EKBO mit den Bundesländern ganz gut funktioniert. Unsere Hygienekonzepte und -ordnungen wurden wahrgenommen; die staatlichen Regelungen wurden zunehmend gelockert. In Brandenburg und Sachsen ist der Gemeindegesang bei Einhaltung entsprechender Maßnahmen erlaubt.
Gottesdienste und Gemeindegesang bergen bei Beachtung von Schutzmaßnahmen keine erhebliche Ansteckungsgefahr. Die Ansteckungsgefahr über die sogenannten Aerosole beim Gesang in geschlossenen Räumen ist ungeschützt groß. Das ist durch Untersuchungen erwiesen und hat sich leider auch bestätigt, wenn ohne Schutzmaßnahmen gesungen wurde. Ein Berliner Chor hatte sich zu Beginn der Pandemiesituation zu Dreiviertel über eine gemeinsame, ungeschützte Chorprobe infiziert. Bei einem Kollegen von mir aus Süddeutschland hatten sich beide Eltern über zwei Bankreihen hinweg in einem Gottesdienst mit Gemeindegesang infiziert; sein Vater ist auf der Intensivstation gestorben. Wir müssen die Gefahr des Corona-Virus weiterhin sehr ernst nehmen; leichtfertiger falscher Heldenmut und unverantwortlicher ziviler Ungehorsam sind da nicht angebracht.
Nur: Wir in der EKBO haben Hygienekonzepte, wir sind in der Lage, diese umzusetzen, und wir beweisen es bereits in Brandenburg und in Sachsen an jedem Sonntag: Mit diesen Schutzmaßnahmen geht vom Gemeindegesang keine besondere Gefährdung aus. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, Leben und Gesundheit seiner Bürger zu schützen; er darf dazu andere Grundrechte wie die Religionsfreiheit einschränken. Bei alledem muss der Gesetzgeber aber verhältnismäßig agieren; das heißt, er darf nicht mehr verbieten, als zum Gesundheitsschutz erforderlich ist. Das Berliner Totalverbot für das Singen in geschlossenen Räumen schießt über dieses Ziel hinaus und muss deshalb durch eine maßvollere Regelung ersetzt werden.