„Der Herr ist mein Hirte…“ So beginnt Psalm 23, einer der wohl bekanntesten Texte der Bibel. Psalm 23 sollte man als Gebet eines Flüchtlings verstehen. Das sagt kein Professor für Bibelwissenschaft. Das sagt der Journalist Heribert Prantl. Der Experte für Innen- und Rechtspolitik der „Süddeutschen Zeitung“ legt die Bibel aus in seinem lesenswerten Beitrag für das neue Buch „Geflüchtete in Deutschland“. Und der Theologe Jan-Dirk Döhling gibt ihm indirekt Recht. Denn, so Döhling, die Bibel ist ganz wesentlich „Migrationsliteratur“. Der Alttestamentler hält fest: „Das Motiv der Bewegung, des Exils, der Vertreibung und der Wanderschaft durchzieht die Bibel.“
Das Buch „Geflüchtete in Deutschland. Ansichten – Allianzen – Anstöße“ erscheint im November im Verlag Vandenhoeck und Ruprecht in der Reihe Neukirchener Theologie. Es legt Grundlagen, gibt Orientierung und beschreibt, wie Integration gelebt und praktisch werden kann. Der Band richtet sich an Entscheider, Verantwortliche und Engagierte in Kommunen und Kirchen, in Wohlfahrtsverbänden und Unternehmen. Es geht um Empathie und Engagement. Herausgeber sind Gerhard K. Schäfer, Barbara Montag, Astrid Giebel und Joachim Deterding.
Aufgeregte Debatten, unaufgeregtes Engagement
Zum Thema Flucht und Flüchtlinge wabern aufgeregte Debatten durch die Medien. Deutschland und Europa haben faktisch dicht gemacht, kaum ein Verfolgter schafft es noch, Zuflucht in Deutschland zu finden und hier sein Menschenrecht auf Asyl wahrzunehmen. Trotzdem werden die Töne immer schriller, die Rechtspopulisten sind im Aufwind, die in der AfD und all die anderen auch. Eine bayerische Regionalpartei treibt die Kanzlerin vor sich her. Ihr Finanz- und Heimatminister polemisiert gegen das optimistische „Wir schaffen das“. Fordernd sagt er: „Wir ändern das.“
In der großen Politik wird kaum konstruktiv debattiert, wie Integration gelingen könnte. Diese wichtige aktuelle Herausforderung zerbröselt im parteipolitischen Kleinklein nach Maßgabe der nächsten Wahl. Die große soziale Bürgerbewegung der vielen Menschen, die sich Tag für Tag für Flüchtlinge einsetzt, gerät unter Druck und muss sich für ihr menschenfreundliches Engagement rechtfertigen.
Allerdings: Die Kirchen bleiben standhaft. Ob Papst, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof oder Diakoniepräsident – sie alle machen immer wieder deutlich, dass Hilfe für Geflüchtete biblischer Auftrag und gesellschaftliche Aufgabe sind. Und sie stützen ihre Hauptamtlichen in den kirchlich-diakonischen Diensten und die nach wie vor in großer Zahl unermüdlich engagierten ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. Neueste Studien zeigen es: Die Engagierten lassen sich nicht beirren, sie sind weiter aktiv als Kümmerer und Paten, als Vorleserin und Dolmetscherin, als Kulturmittler und als Fürsprecherin.
Das ist der Kontext, in dem jetzt das Buch „Geflüchtete in Deutschland. Ansichten – Allianzen – Anstöße“ erscheint. 51 Autorinnen und Autoren haben an dem Projekt mitgewirkt. Unterschiedliche Aspekte und Perspektiven werden eingebracht.
Geerdete Hoffnung: Roter Faden – mit Knotenpunkten
Was passiert, wenn eine evangelische Kirche geschlossen, aber für die Not-Unterbringung von Flüchtlingen geöffnet wird? Wie engagiert sich der Weltkonzern Deutsche Post für die Ausbildung junger Flüchtlinge? Wie sollte eine postmigrantische Gesellschaft aussehen und was können Diakonie und Kirche dazu beitragen, dieses ambitionierte Zukunftsprojekt zu gestalten? Wie geht es traumatisierten Flüchtlingskindern und was kann man für sie tun? Wie kann Gemeinwesenarbeit im Stadtteil als Netzwerk der Integration vor Ort aufgebaut werden? Was kann man aus philosophischen Diskursen für die Flüchtlingshilfe lernen? Sind die modernsten sozialen Medien gute Hilfsmittel für die Integration geflüchteter Jugendlicher?
Diese kleine Auswahl erörterter Fragen zeigt, wie vielfältig in dem umfangreichen Sammelband auf das Thema „Geflüchtete in Deutschland“ eingegangen wird.
Den roten Faden, der sich durch das ganze Buch zieht, benennen die Herausgeber in ihrer pointierten Einführung: „Nüchterne, geerdete Hoffnung – das ist die Haltung, die das Buch durchzieht.“ Diese Grundhaltung kennzeichnet alle Beiträge vom Geleitwort der nordrhein-westfälischenministerpräsidentin Hannelore Kraft über die engagierte Rede der Landtagspräsidentin Carina Gödecke bis hin zur sachlich-nüchternen Bestandsaufnahme der Duisburger Polizeipräsidentin Elke Bartels, die „Migration und Sicherheitsaspekte aus polizeilicher Sicht“ beschreibt.
Verändernde Begegnung für beide Seiten
Der rote Faden hat Knotenpunkte. Ein Knotenpunkt liegt in den beschriebenen Hilfen für Geflüchtete, die den Lebensphasen folgen – von der Kindertagesstätte über die Schule bis zu den Bedürfnissen junger Erwachsener. Handlungsfelder der Integration stellen einen weiteren Knotenpunkt dar. Auch die lokale Verortung erweist sich als ein wichtiger Knotenpunkt im roten Faden. Die Stadtlandschaft an Rhein und Ruhr bildet einen wesentlichen lokalen Fokus. Für Duisburg erschließt Diakoniepfarrer Stephan Kiepe-Fahrenholz, wie Kommune und Kirche mittelfristig gemeinsam „raus aus dem Krisenmodus“ kommen können. Überlegungen dieser Art sind übertragbar auf alle Regionen Deutschlands. Und so praktisch und alltagstauglich manche Artikel verfasst sind – grundlegende Orientierungen und horizonterweiternde Anstöße markieren einen weiteren Knotenpunkt. „Brot für die Welt“-Direktorin Cornelia Füllkrug-Weitzel macht etwa deutlich, dass letztlich die Bekämpfung von Fluchtursachen unverzichtbarer Bestandteil aller Flüchtlingshilfe ist.
Ausgangspunkt für das Buchprojekt war eine Veranstaltung im Februar 2016 in der Pauluskirche in Dortmund. „Erfolgreiche Allianzen in der Flüchtlingsarbeit“ wurden dort vorgestellt. Fachleute und Engagierte aus der lokalen und regionalen Flüchtlingsarbeit berichteten aus ihrer Arbeit. Diakoniepräsident Ulrich Lilie rief in Dortmund dazu auf, 2016 zum Jahr der Integration werden zu lassen. Landesweit und bundesweit werden Pläne und Programme zur Integration aufgelegt. An der Praxis hapert es allerdings allzu oft. Da haben etwa Flüchtlinge einen Praktikumsplatz in einer Firma sicher, konnten aber noch nicht den dafür notwendigen Sprachkurs absolvieren.
Wenn Einheimische und Zuwandernde sich begegnen, dann verändert das beide Seiten. Auch Kirche ändert sich, sogar der ganz normale Sonntagsgottesdienst. „Gemeinden, zu denen regelmäßig Geflüchtete kommen, verändern sich. Sie öffnen ihre Räume und bekommen Impulse für ihren eigenen Glauben zurück“, schreibt Annette Muhr-Nelson, Leiterin des Amtes für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung (MÖWe) der Evangelischen Kirche von Westfalen. Und der Dortmunder Superintendent Ulf Schlüter stellt fest: „Für jene Kirchengemeinden, die sich der Herausforderung der letzten zwei Jahre besonders aufgeschlossen und intensiv gestellt haben, ging das Engagement für Flüchtlinge einher mit einer Wiederentdeckung des Diakonischen.“
„Geflüchtete in Deutschland“ ist ein Buch mit guten Ideen und anregenden Impulsen. Wer soll das alles lesen? Jeder, der sich nicht mit kurzatmigen Programmen und überängstlichen Stimmungen zufrieden geben will. „Geflüchtete in Deutschland“ ist in seiner Vielfalt ein einmaliges und damit kluges Buch. Ein Buch, das leise Töne anschlägt statt schriller Parolen. Wir lesen das. Dann schaffen wir das auch.