Erstmals hat ein unabhängiger Forscherbund am Donnerstag eine bundesweite Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche veröffentlicht. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erklärt der Hamburger Psychologe Michael Thiel, warum Betroffene sich nach einer sexuellen Gewalttat ihr Leben lang quälen und warum gerade die Strukturen in der Kirche Missbrauch begünstigen.
epd: Herr Thiel, was bedeutet sexuelle Gewalt für die Betroffenen?
Michael Thiel: Sie leiden oft ihr Leben lang. Viele Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, sind seelisch traumatisiert. Oft plagen sie Schuldgefühle, die der Täter ihnen eingeredet hat. Sie haben Flashbacks. Das heißt: Ein bestimmter Geruch, eine bestimmte Musik oder Dunkelheit reaktivieren das Gefühl, das die Betroffenen bei der Tat hatten. Sie durchleben den Missbrauch so immer wieder. Um dem seelischen Schmerz etwas entgegenzusetzen, verletzen besonders Frauen sich oft selbst. Den Betroffenen fällt es auch oft schwer, vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.
epd: Würden Sie sagen, dass es in der Kirche Strukturen gibt, die sexuelle Gewalt begünstigen?
Michael Thiel: Die Kirche ist sehr hierarchisch aufgebaut. Da können solche Taten besser vertuscht werden als in flachen Hierarchien, wo mehr soziale Kontrolle herrscht und viele Menschen sich einmischen. In einer Hierarchie kann eine Obrigkeit einen Täter einfach auf eine andere Position versetzen und Personalakten unter Verschluss halten. Andere im Team, die die sexuellen Gewalttaten des Chefs vielleicht mitbekommen, haben Angst vor beruflichen Konsequenzen, wenn sie etwas sagen. Deshalb schweigen sie.
epd: Wie sollte sich Kirche aus psychologischer Sicht verhalten? Was könnte Betroffenen helfen?
Michael Thiel: Da gibt es nur einen Weg: schonungslose Offenheit! Mit der Geheimnistuerei muss Schluss sein, alle Fälle müssen transparent gemacht werden. Kirche muss ihre Schuld eingestehen und die Betroffenen entsprechend entschädigen. Außerdem muss Kirche ihre Struktur überdenken und Schutzmechanismen einbauen, um sexuelle Gewalt zu verhindern. Die Betroffenen sehnen sich danach, dass ihre Qualen aufhören. Eine Therapie und der Austausch mit anderen Betroffenen können helfen, sie zu mildern.