Der Zweite Weltkrieg war lange Zeit kein Thema, mit dem sich Esther Stolz aus Friedrichshafen beschäftigte. Geboren und aufgewachsen als Tochter eines Deutschen in Schottland, verbrachte sie später zusammen mit ihrem Ehemann einige Jahre in den USA. Dort war es der History Channel, der ihr Interesse an der Epoche zwischen 1939 und 1945 weckte. „Es hat mich interessiert, wie diese Zeit in Deutschland beurteilt wird“, sagt sie im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Und natürlich, was mein Vater und mein Großvater in dieser Zeit getan haben.“
Zurück in Deutschland, stellte sie Anfang der 2000er-Jahre Nachforschungen an. Denn ihr bereits 1989 verstorbener Vater hatte nie über den Krieg gesprochen. Sie wusste nur, dass er 1944 in Paris in alliierte Kriegsgefangenschaft geraten und bis Dezember 1948 in Schottland inhaftiert war. Später lernte er dort seine Ehefrau, eine Schweizerin, kennen. Die Familie blieb bis in die 1960er-Jahre in Schottland. Eine Anfrage bei der Wehrmachtsauskunftstelle ergab, dass ihr Vater dem SS-Panzer-Artillerie-Regiment 1, Leibstandarte Adolf Hitler, angehörte. Von ihrem Großvater hatte es stets nur geheißen, er sei in Russland gefallen. Mehr war nicht bekannt.
„So ging es hunderttausenden Familien“, sagt Oliver Wasem, Landesgeschäftsführer des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge für Baden-Württemberg. Nach seinen Worten gelten rund eine Million deutsche Soldaten bis heute als vermisst. Der Volksbund widmet sich im Auftrag der Bundesregierung der Aufgabe, die Gräber der deutschen Kriegstoten im In- und Ausland zu erfassen und zu pflegen. Er unterhält und betreut eigenen Angaben zufolge 832 Kriegsgräberstätten in knapp 100 Ländern mit mehr als zwei Millionen Gräbern.
Esther Stolz erkundigte sich 2003 beim Volksbund zum Verbleib ihres Großvaters. Sie erfuhr, dass er gar nicht in Russland ums Leben gekommen war, sondern im heutigen Tschechien. „Und zwar erst am 4. Juli 1945, also zwei Monate nach Kriegsende“, so seine Enkelin. „Es ist bekannt, dass es im ehemaligen Sudetenland damals viel Hass gab gegen Deutsche und alles, was deutsch war“, erklärt sie und verweist auf die sogenannten Beneš-Dekrete. Mit den nach dem tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš benannten Dekreten hatte die damalige Tschechoslowakei die Vertreibung der rund drei Millionen Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg legitimiert.
Ungewissheit plagte lange auch Marcel Eberlein aus Ettlingen bei Karlsruhe. Von seiner Großmutter wusste der gebürtige Sachse, dass sein Großvater Alfred Eberlein 1944 in der Schlacht um Montecassino in Italien gekämpft hatte. Die Schlacht vom 17. Januar bis zum 18. Mai gilt als eine der längsten und blutigsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Bis zu 55.000 alliierte und mehr als 20.000 deutsche Soldaten wurden getötet. Zur Einweihung des Deutschen Soldatenfriedhofs in Montecassino am 4. Mai 1965 erhielt die Familie zwar eine Einladung, aber die zu der Zeit bereits eingemauerte DDR ließ sie nicht reisen.
„Eine der ersten Touren, die wir nach dem Fall der Mauer gemacht haben, war eine Busrundreise nach Italien, nur um das Grab meines Großvaters endlich besuchen zu können“, erzählt Eberlein. Zuletzt war er 2019 dort zum internationalen Gedenken anlässlich des 75. Jahrestages der Schlacht. „Das war bewegend, mit so vielen Angehörigen aus Deutschland und Ländern der damaligen Alliierten.“ Eberlein wirbt für einen „gesunden“ Umgang mit der deutschen Vergangenheit: „Wir müssen einen Mittelweg finden zwischen Heroisierung und Selbstverleugnung.“