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Sehnsucht nach der heilen Welt

Weihnachten funktioniert. Kein anderer Teil des christlichen Glaubens war so erfolgreich wie die Erzählung von der Geburt des Heilandes in der Krippe im Stall von Bethlehem. Weltweit feiern die Menschen das Fest im großen Stil. Selbst im atheistischen China oder im Senegal, wo 94 Prozent der Menschen Muslime sind. „Weihnachten ist das wichtigste Fest der Welt“, sagte kürzlich der Forscher Karl-Heinz Göttert im Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“.

Man mag sich wundern, wie das passieren konnte.
Allein die äußeren Umstände. Die Krippe im Stall von Bethlehem? Eine Notunterkunft. Hygienische Bedingungen? Eine Katastrophe. Ochse, Esel, ungewaschene Hirten. Drei Weise, die nach langer Reise auch nicht taufrisch gewesen sein werden. Dazu war es kalt und dunkel. So eine Situation kann niemand herbeisehnen.

Und dann die Geschichte dahinter: Das Baby im Futtertrog wird Gott genannt, Erlöser der Welt. Dazu singen Engel vom Himmel. Und da haben wir noch gar nicht von der Jungfrauengeburt gesprochen. So eine Geschichte ist eine Zumutung für den aufgeklärten Menschen. Nur zu Weihnachten, da funktioniert sie eben.

„Zu Weihnachten spielt die Welt Theater. Das Stück heißt: Himmelreich“, sagte vor zwei Jahren der Theologe Harald Schroeter-Wittke im UK-Interview. Und das gilt gerade für jene, die sonst wenig mit dem christlichen Glauben am Hut haben.
Warum ist das so?

Die Vermutung liegt nahe: Weil im Grunde alle, nicht nur die Christinnen und Christen, gern an eine solche Geschichte glauben möchten. Denn dahinter steckt die Sehnsucht nach der heilen Welt.

Wenn wir heute auf die Krippe schauen, dann sehen wir nicht mehr Schweiß und Schmutz, die Sorge und die Tränen an jenem Abend. Sondern: Wärme. Geborgenheit. Schutz. Nähe und Liebe.

All diese zutiefst menschlichen Instinkte sind im Bild von der Krippe wie in einer Ikone festgehalten. Eine Momentaufnahme, die sich den Menschen in Herz und Gemüt eingebrannt hat. Weltweit. Die „heilige“ Familie. Die sorgenden Eltern. Der Schutzwall aus Hirten, Weisen und Tieren. Dazu der Beistand vom Himmel. All das ist ein Sinnbild für die Sehnsucht, dass alles wieder gut sein möge.

Wahrscheinlich treffen uns die Kontaktbeschränkungen zu Weihnachten deshalb so besonders hart. Jahrelang waren wir genervt vom Weihnachtstrubel mit Familie und Besuchen. Jetzt spüren wir, wie wichtig uns das alles ist. Wärme. Nähe. Geborgenheit im Kreis der lieben Mitmenschen. Und nun heißt es plötzlich: Bleibt am besten allein. Das ist niederschmetternd.

Aber: Blickt man auf die Krippe, und blickt man ganz genau hin, dann sieht man sie vielleicht wieder ein bisschen so, wie sie wohl wirklich war. Damals, an jenem Abend vor gut 2020 Jahren im Stall von Bethlehem. Das Licht kommt in die Finsternis – das ist nicht mehr länger nur eine schöne Geschichte. Sondern Wahrheit. Denn da ist plötzlich Finsternis. Da sind Sorgen, Nöte, Einschränkungen, Ängste und Leid. Vielleicht ist für viele von uns Weihnachten noch nie so nahe gekommen wie in diesem Jahr.

Und wenn wir dann hinschauen, mit geschärften Sinnen – vielleicht hören dann auch wir eine Stimme vom Himmel, die uns zuruft: Das Heil ist da! Es scheint noch klein, wie dieses Kind in der Krippe. Aber es ist da. Schon hier, in dieser Welt. Und umso mehr in der künftigen, vollständig heilen Welt. Halte daran fest. Es wird alles gut. Auch wenn wir das jetzt noch kaum glauben und schon gar nicht verstehen können.