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“Schwer zu sagen, wo die historische Wahrheit liegt”

Als Soldaten der Wehrmacht im Oktober 1944 auf getötete Zivilisten in Nemmersdorf im damaligen Ostpreußen stieß, benutzte der NS-Staat die Toten für Propaganda gegen die Rote Armee. Historische Dokumente über dieses Verbrechen aber gebe es so gut wie keine, sagt John Zimmermann, Leiter des Fachbereichs Militärgeschichte bis 1945 am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. „Daher wissen wir noch immer viel zu wenig, was in Nemmersdorf tatsächlich passiert ist.“ Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) warnt er auch vor der Auswertung von Zeitzeugenberichten über die Geschehnisse in Nemmersdorf als methodischem Zugang.

epd: Über die Toten im damaligen ostpreußischen Nemmersdorf 1944 ist viel geschrieben worden. Doch die Bewertungen der Historiker und Historikerinnen unterscheiden sich oft deutlich. Hat das mit fehlenden Quellen zu tun?

John Zimmermann: Ja. Historische Dokumente über dieses Verbrechen gibt es so gut wie keine. Daher wissen wir noch immer viel zu wenig, was im Oktober 1944 in Nemmersdorf während der zweitägigen Besetzung durch die Sowjetarmee tatsächlich passiert ist. Da also zu dem ganzen Geschehen fast keine historisch belastbaren Unterlagen existieren, muss man vorsichtig sein. Möglich ist jedoch, dass es in russischen Archiven noch aufschlussreiche Dokumente gibt, die aber derzeit nicht erreichbar sind. Zudem sind die Kriegsverbrechen der Roten Armee von Seiten der DDR nie untersucht worden. Deshalb existieren auch keine Gerichtsprozesse mit Akten, die man auswerten könnte.

epd: Aber es gibt doch etliche Zeitzeugenberichte.

Zimmermann: Ja, es gibt mehrere Publikationen zu den Vorgängen in Nemmersdorf, der Eroberung Ostpreußens durch die Sowjetarmee und die Flucht der Deutschen, die sich aber, was Nemmersdorf betrifft, fast nur auf eben jene Augenzeugen stützen. Oft entstanden die aber erst Jahre nach den Geschehnissen, aus der verblassenden Erinnerung, die womöglich nicht frei ist von der reißerischen NS-Berichterstattung. Dieser methodische Zugang ist problematisch. Es ist also tatsächlich noch immer schwer zu sagen, wo die historische Wahrheit liegt.

epd: Gibt es denn überhaupt gesicherte Fakten?

Zimmermann: Dass es in Nemmersdorf und auch an vielen anderen Orten in Ostpreußen sowjetische Verbrechen an Deutschen gab, ist belegt. Aber es ist nicht einmal bekannt, wie hoch die Zahl der Toten in Nemmersdorf genau war. Vermutlich waren es zwischen 19 und 30. Dass die Propaganda-Maschinerie von Joseph Goebbels die Morde an den wehrlosen Zivilisten umgehend ausgenutzt hat, ist ebenfalls bekannt. Dazu wurden die Leichen, die schon in einem Massengrab beerdigt waren, wieder ausgegraben. Und für die Fotos wurden den Frauen die Röcke hoch und die Unterwäsche heruntergezogen, um Sexualdelikte zu unterstellen.

epd: Warum wurden gerade die Morde in Nemmersdorf so propagandistisch instrumentalisiert?

Zimmermann: Das hat einen ganz einfachen Grund. Es war ein wohl singuläres Ereignis an der Ostfront, dass es der Wehrmacht gelang, die sowjetischen Truppen wieder nach Osten zurückzudrängen und den Ort zumindest für kurze Zeit wieder zu besetzen. Nur dadurch bekamen die Deutschen einen sofortigen Eindruck von den Verbrechen der Sowjets. Das war aber eher Zufall, das hätte so auch an einem anderen Ort geschehen können. Dass es dazu in Nemmersdorf kam, hat seinen Grund allein darin, dass dort eine Brücke, die auch Panzer trug, existierte, und den Vorstoß über den Fluss Angerapp möglich machte. Goebbels hat die Ereignisse sofort ausgenutzt, um Angst und Schrecken zu verbreiten, um so die Kampf- und Durchhaltebereitschaft zu stärken.

epd: Was war die Propagandastrategie des NS-Ministers?

Zimmermann: Goebbels hat erkannt, welche Möglichkeiten sich ihm bieten, hier einen propagandistischen Joker zu setzen. Auch deshalb wurden unmittelbar danach ausländische Journalisten nach Nemmersdorf gelassen, um aller Welt die grausamen Taten der Roten Armee vermeintlich authentisch vorzuführen. Das Echo in den Medien war gewaltig. An einer anderen Stelle hätte Goebbels das gar nicht gekonnt, denn von den Sowjets erobertes Gebiet war bis dato unwiederbringlich verloren und man konnte meist nur ahnen, was hinter deren Linien geschah.

Vergessen werden darf aber gleichfalls nicht, dass dieses Verbrechen vielen Deutschen als Rechtfertigung für das eigene Verhalten diente: Im Vernichtungskrieg gegen die sowjetische Bevölkerung hatten deutschen Truppen und Einsatzgruppen seit 1941 bereits – und schon ab 1939 auch in Polen und auf dem Balkan – millionenfach Morde begangen. Das rechtfertigt die Verbrechen sowjetischer Soldaten nicht, erklärt aber einiges; Ursache und Wirkung müssen jedenfalls klar angesprochen werden. Der Krieg kehrte dorthin zurück, von wo aus er 1939 entfesselt worden war.

epd: Ob die Goebbels-Strategie, mit der Angst vor sowjetischen Gewalttaten die Kampfbereitschaft von Militär, SS und Volkssturm zu steigern, aufging, ist zumindest zu bezweifeln. Was meinen Sie?

Zimmermann: Tatsache ist: Die deutschen Truppen bis hin zum Volkssturm haben an der Ostfront bei weitem hartnäckiger gekämpft als im Westen – mit horrenden Verlustzahlen als Folge davon auf beiden Seiten. Im Grunde ist ja die eigentliche Frage, warum die Deutschen nicht früher kapitulierten. Das ist auf zwei Ebenen zu beantworten. Auf der Führungsebene des NS-Systems ist das klar, denn für Adolf Hitler gab es keine Alternative, schon gar keine Kapitulation. Bei der Bevölkerung ist die Antwort vielschichtiger. Im Westen des Reiches hatte man viel weniger Angst vor den kommenden Siegern als im Osten, auch weil man wusste, was von Deutschen und in deutschem Namen dort alles verbrochen worden war.

epd: Das Verbot der NS-Regierung, frühzeitig die Flucht nach Westen anzutreten, hatte viel zu lange Bestand. Warum haben die lokalen Behörden den Bürgern im damaligen Ostpreußen nicht viel früher gestattet, sich in Sicherheit zu bringen?

Zimmermann: Das hatte auf jeden Fall auch damit zu tun, dass der Kampfgeist der Verteidiger, der eigenen Truppen gestärkt werden sollte. Die deutschen Truppen, so war die Annahme, kämpften hartnäckiger und entschlossener, wenn sie dadurch noch die Zivilbevölkerung in ihrem Rücken schützte. Das ist psychologisch nachvollziehbar: Soldaten tun sich schwer, ein Dorf im Stich zu lassen, wenn dort noch die eigene Bevölkerung ausharrt. Dass die verspätete Flucht zu vielen Tausenden Toten führte, die hätten vermieden werden können, ist ebenfalls klar. Aber Menschenleben zählten nichts im untergehenden NS-Staat.