Die Evangelische Schule Berlin Zentrum schickt ihre Schüler*innen auf Herausforderung.
Von Nora Tschepe-Wiesinger
Der erste Notfall passiert nach fünf Tagen. Es ist ein heißer Augusttag, die Zweige der Apfelbäume am Straßenrand hängen tief voller reifer Früchte. „Der da oben sieht gut aus“, ruft Milla und zeigt auf einen großen Apfel am Zweig über ihr. Sie lehnt ihr Fahrrad an den knorrigen Baumstamm und beginnt zu klettern. Bisher hat sie nur gefrühstückt: eine Schüssel Porridge, Haferflocken mit Wasser aufgekocht. Als sie den Apfel zu fassen bekommt, jubelt sie: „Hab ihn!“ Vorsichtig macht sie sich an den Abstieg. Vom letzten Ast springt sie. Als sie auf dem Boden aufkommt, verzieht sie vor Schmerzen das Gesicht. „Ah, mein Knöchel!“ „Schnell, der Erste-Hilfe- Koffer“, ruft Maya. „Liesbeth, wir brauchen deine Isomatte. Hey, ihr da vorne, haltet mal an!“
Milla, Maya und Liesbeth machen zusammen mit fünf Freundinnen eine Fahrradtour der besonderen Art. Sie sind auf „Herausforderung“, einer Art Schulfach an ihrer Schule, der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ) in Berlin-Mitte. Einmal im Jahr schickt die ESBZ alle Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen acht bis zehn drei Wochen lang auf „Herausforderung“ – ohne Lehrerin oder Lehrer. Mitkommen darf nur ein Begleiter, meist eine Studentin oder ein Student, der nur im Notfall eingreifen soll. Wenn die Gruppe in die falsche Richtung fährt, dürfen sie genau so wenig etwas sagen, wie wenn sie sich beim Einkaufen verkalkuliert.
Die Schülerinnen und Schüler sollen auf Herausforderung lernen, Verantwortung zu übernehmen und selbstständig zu sein. Dabei setzen sie sich ihre Ziele selbst. Viele Jugendliche gehen Wandern, machen eine Fahrrad- oder eine Kanutour. Einmal um den Bodensee, durch die Eifel oder den Jakobsweg in Spanien – die Ziele sind ganz unterschiedlich. Andere bleiben an einem Ort, helfen auf Bauernhöfen oder in Seniorenheimen, schreiben ein Buch oder gründen eine Band. Hauptsache, die Aufgabe bringt die Jugendlichen an ihre Grenzen.
Das Budget: 150 Euro für drei Wochen
Milla, Maya, Liesbeth, Joni, Karlotta, Meret, Tara und Mieko haben sich fürs Fahrradfahren entschieden. Sie sind zwischen 14 und 16 Jahre alt; für einige ist es die zweite, für andere schon die dritte und damit letzte Herausforderung. Sie wollen in achtzehn Tagen von Blankenfelde im Süden Berlins bis nach Stolzenhagen an der Oder im Landkreis Barnim fahren, jeden Tag 30 bis 60 Kilometer.
In der Schule gibt es im Vorfeld mehrere Coachings und Beratungstermine, in denen die Mädchen ausgemacht haben, wer den Camping – kocher und wer das Fahrradflickzeug mitbringt, wer die Karte liest und wer die Kasse mit dem Geld verwaltet.
150 Euro hat jeder der acht Schülerinnen für die drei Wochen zur Verfügung. Davon müssen sie Verpflegung und Unterkünfte bezahlen. Milla und ihre Freundinnen haben im Voraus bei Freunden und Kirchengemeinden angefragt, ob sie im Garten zelten oder im Gemeindehaus schlafen können. So sparen sie Geld. Was sie machen, wenn eine nicht mehr weiterfahren kann, haben sie nicht besprochen.
„Und jetzt?“, fragt Milla, nachdem Maya einen Druckverband um ihren Knöchel angelegt hat. Sie sind gerademal zehn Kilometer gefahren, das Etappenziel für den heutigen Tag liegt bei 45 Kilometern. „Wir können einfach hier schlafen“, schlägt Tara vor. „Doch nicht am Straßenrand“, sind sich die anderen einig. „Dann klingeln wir halt bei jemandem im Dorf und fragen, ob wir im Garten zelten können“, sagt Tara. Die 14-Jährige ist die jüngste in der Gruppe. Auf ihrer ersten Herausforderung vor zwei Jahren war sie Wandern. Nach zwei Wochen hat sie abgebrochen und wurde von ihrer Mutter abgeholt. „Ich hatte Heimweh“, erzählt sie.
Davon ist jetzt, zwei Jahre später, nichts mehr zu merken. Tara fährt die meiste Zeit ganz vorn, fragt in Dörfern nach dem Weg und in Bäckereien, ob Brot vom Vortag übrig ist. Auf der Herausforderung hat sie gelernt, Fremde anzusprechen, sagt sie.
„Ich ziehe Milla“, schlägt Maya schließlich vor. „Sie kann sich hinten am Gepäckträger von meinem Fahrrad festhalten, dann muss sie nicht selbst treten.“ Auf der Herausforderung lernen die Jugendlichen, auch in schwierigen Situationen nicht aufzugeben. Maya zieht Milla die restlichen 35 Kilometer; an Hügeln helfen die anderen und schieben das Fahrrad mit an.
Als die Mädchen abends ihre Isomatten ausrollen, wird ihnen klar, dass sie einen Pausentag brauchen. Alle sind erschöpft, Milla muss ihren Knöchel schonen und sie haben kein Essen mehr. Es ist Sonntag, der einzige Supermarkt im Dorf hat zu. „Wir müssen die Strecke ändern und morgen einkaufen gehen“, sagt Tara. Die anderen nicken. Aus einem Pausentag werden zwei. Millas Knöchel geht es besser, aber ab sofort fahren sie nur noch maximal 30 Kilometer am Tag.
Einzige Regel: kein Smartphone
Das Projekt Herausforderung ist ein Abenteuer, das die Mädchen zusammenschweißt. Sie pflücken Äpfel und Zwetschgen am Straßenrand, springen in einen der vielen Brandenburger Seen, wenn ihnen zu heiß wird und zelten abends unter dem Sternenhimmel. Sie haben kein Smartphone dabei, das ist eine der wenigen Vorgaben der Schule. Es gibt keine Lehrer oder Erwachsene, die ihnen sagen, wo es lang geht, wann sie aufstehen müssen und was es zu Essen gibt.
Das Projekt Herausforderung ist herausfordernd. Scheitern gehört dazu, Streitereien und schlechtes Wetter. Aber auch: Durchhalten, das Gefühl, gemeinsam etwas geschafft zu haben, und viel Spaß. Nach den drei Wochen sind die Mädchen stolz. Sie wissen jetzt, wie man Wanderund Fahrradkarten liest, einen Druckverband anlegt und welches Obst gerade reif ist – Dinge, die sie im Unterricht wohl nicht gelernt hätten.