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Schriftstellerin Rabe: Vorgang des Erinnerns oft unterschätzt

Gewalt in Kinderjahren nach der Wende, davon erzählt Anne Rabes Roman “Die Möglichkeit von Glück”. In der Realität sieht die Autorin nach eigenen Worten durchaus Wege zur Versöhnung.

Anne Rabe (38), Schriftstellerin, wirbt für einen bewussteren Umgang mit Erinnerungen. “Was merkt man sich? Was hinterlässt einen Eindruck? Es gibt auch in der Tierwelt Erfahrungen, die abgespeichert werden, aber wahrscheinlich gibt es kein Tier, das Chronologien und Bezüge herstellt”, sagte Rabe der Zeitschrift “Psychologie Heute” (Januar-Ausgabe). Menschen täten dies dagegen ständig “und vergessen, was für ein fragiler Vorgang das ist. Und dass man über die Erzählung der Vergangenheit auch das eigene Ich konstruiert.”

So seien auch Erinnerungen an historische Momente wie den Mauerfall nicht “objektiv, verallgemeinerbar oder austauschbar”, sondern sehr individuell. “Das sind nicht die kollektiv geteilten Fernsehbilder vom Oktober 1989”, mahnte Rabe. Im Alltag ließen sich Erinnerungen leicht ausblenden. “Aber es gibt Situationen, in denen sich Erkenntnisse zuspitzen, Erinnerungen vernetzen und man die Beschäftigung mit einem alten Thema nicht mehr abstellen kann. Zum Beispiel luzide Momente in schlaflosen Nächten, in denen man keine Kontrolle mehr darüber hat, wohin Gedanken und Gefühle steuern.”

Derzeit könne sie nicht sagen, wie eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Gewaltgeschichte Ostdeutschlands gelingen könne. Sie ist Thema von Rabes Essay “Kinderland” und ihrem Roman “Die Möglichkeit von Glück”, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war. “Es ist schwer, sich bewusstzumachen, wie stark die Gewaltatmosphäre und das Glaubenssystem wirken”, sagte die Autorin. Aus ihrer Sicht sei schon viel erreicht, wenn die ältere Generation “eine Ahnung davon bekommt, wie schädlich es war, Kinder zu schlagen oder zu vernachlässigen”.

Ihr Eindruck sei, dass die “Schweigelandschaft” in Ostdeutschland bis heute komplexer sei als im Westen. “Dort gibt es die nationalsozialistische Vergangenheit, die in der DDR anders als in der Bundesrepublik überhaupt nicht aufgearbeitet ist. Und zusätzlich die zweite Diktatur in den Jahren bis 1989.” Bei manchen Lesungen beobachte sie, dass Menschen gern sprechen würden, es aber nicht könnten: “Das Schweigen liegt manchmal wie Blei im Raum”, sagte Rabe. “Man kann sich nicht öffnen. Auf der anderen Seite werden gesellschaftliche Diskurse im Osten oft mit großer Unerbittlichkeit geführt. Es geht nicht, dass zwei Positionen nebeneinanderstehen. Es gibt keine zwei Meinungen.”