“Sorry, mach ich nicht, noch ein Interview”. Dominik Bloh telefoniert beim Spaziergang am Hamburger Hafen mit seinem Agenten. Sein Terminkalender ist voll. Noch am Wochenende gab er eine Lesung. “Mehr schaff ich gerade nicht.” In Hamburg verbringt Bloh kaum noch Zeit. Die meisten Tage sitzt er im Zug, schläft in Hotels. Dabei lebte der 36-Jährige fast elf Jahre lang in der Hansestadt auf der Straße. Heute arbeitet Bloh als Schriftsteller und Aktivist. In seinem Buch “Die Straße im Kopf” schreibt er über seinen Weg – und wie schwer es ist, wirklich anzukommen.
Seine Kindheit beschreibt er in Gedankenfetzen, wie nach einem Trauma: Blohs leiblicher Vater verschwand noch vor seiner Geburt. Sein Stiefvater schlug ihn mit einem Gürtel. Irgendwann verließ seine Mutter ihn. Als Alleinerziehende stand sie vor dem Burnout. Bloh schwänzte die Schule, zog sich zurück, die Mutter schickte ihn zum Psychiater. Als er 16 Jahre alt war, setzte sie ihn auf die Straße. “Heute verstehe ich sie besser”, sagt Bloh. “Sie konnte einfach nicht mehr.”
Obdachlos in der Stadt: Nächte unter Palmen aus Stahl
Die ersten Nächte wusste er nicht wohin: Stadtpark? Bahnhof? Oder Fußgängerzone? Später schlief er meistens unter den “Palmen aus Stahl”, drei Skulpturen auf dünn bewachsenen Grünflächen und Asphalt. “Park Fiction” heißt der Platz. Den Rasen nannten die Künstler “Fliegender Teppich”. Bloh deutet auf eine Liegebank aus Holz, ein paar Meter vom öffentlichen Pissoir: “Das war mal mein Bett, mit Blick auf die Elbe”, sagt er und lacht wie über einen schlechten Scherz.
Bloh besaß kaum noch etwas: eine Jogginghose, Shirts, Pullover und Jacken, in mehreren Lagen. Und immer einige Seiten Papier, Kartons und einen Stift. Schon damals schrieb er, solange es hell war. Reime, Gedichte. Irgendwie musste er seinen Schmerz rauslassen. Pläne hatte er keine, konnte er nicht haben. “Auf der Straße gibt es nur die Bewegung”, sagt er, in kleinen Schritten: von einem Schlafplatz zum anderen, von der Essensausgabe zum Mülleimer, auf der Suche nach Flaschenpfand.
Die Wende kam für ihn, so sagt er, als er sich anderen Menschen öffnete: Während der Flüchtlingskrise half er unbezahlt in den Hamburger Messehallen, gab Kleiderspenden aus, sprach mit Geflüchteten. Die Geschichten beeindruckten ihn. “Die Menschen hatten viel Leid auf sich genommen und schafften es trotz aller Umstände, friedlich mehrmals am Tag, manchmal stundenlang zu warten, um Dinge des alltäglichen Lebens zu erhalten”, so Bloh. Er fühlte sich nicht mehr allein.
Überfordert von Geld und Schulden
Bloh engagierte sich in seiner Stadt, organisierte einen Duschbus für Obdachlose in Hamburg. Und schrieb schließlich seine Geschichte auf. Sein erstes Buch wurde zum Bestseller. Bloh reiste durch Deutschland. Auf Fachtagungen der Wohnungslosenhilfe sprach er als Experte, schüttelte Promis die Hand, vom Chef des FC Sankt Pauli bis zum Bundespräsidenten: Für sein Engagement bekam er das Bundesverdienstkreuz.
Heute ist Bloh selber ein Promi. Mit seinem Buch bekam er plötzlich Geld – und fühlte sich anfangs überfordert. Seine erste Wohnung war 20 Quadratmeter groß. Er wusste nicht, wie er die füllen sollte. Sein erstes Möbelstück war ein Tisch. Den brauchte er zum Schreiben. Nachts schlief er auf dem Boden, dann auf einer Matratze. Später bekam er ein Bettgestell. Er benutzte es nie. Die Bretter landeten auf dem Dachboden der Hausgemeinschaft. Warum er es nicht aufbaut, kann er sich selbst nicht genau erklären. “Wenn man von der Straße kommt und in eine Wohnung zieht, dann ist nicht sofort alles anders”, sagt er. “Schmutz lässt sich abwaschen, Gewohnheiten nicht.”
Auch nicht die eigene Vergangenheit. Bloh war verschuldet. “Sobald du eine Adresse hast, kommen die Mahnbriefe”, sagt Bloh. Weil er nicht zahlen konnte, drohte er mehrmals hinter Gittern zu landen. Jedes Mal fanden sich Freunde, die in letzter Minute seine Schulden übernahmen. “Soziale Netzwerke sind wichtig”, sagt er. “Auf der Straße waren Freundschaften praktisch unmöglich.” Schritt für Schritt schaffte er es, Kontakte zu finden. Anders wäre er wieder auf der Straße gelandet, erzählt er: Irgendwann warf ihn sein Vermieter raus. Ein Bekannter half ihm: Heute lebt Bloh in einer Wohnung im Villenviertel Blankenese.
Leben zwischen Extremen
Bloh bewegt sich heute zwischen Extremen, lebt zwischen Luxus und Verzicht. Wenn er für Lesungen verreist, schläft er in Hotels, trinkt Champagner. Doch seine Klamotten sind nahezu dieselben geblieben: Seine Jogginghose trägt er bis heute. Nachts zieht er immer noch die Kapuze über den Kopf, wie damals. Einmal, so erzählt er, war er eingeladen, bei einer Gala in einem Hamburger Theater die Laudatio zu halten. Bloh kam zu Fuß, neben ihm hielten Limousinen. Am Eingang ließ ihn die Security nicht herein.
Und Bloh dachte darüber nach, so sagt er, “wie dieser Abend wieder einmal für mich persönlich verlaufen ist, weil das äußere Erscheinungsbild eine entscheidende Rolle gespielt hat.” Er fordert den Ausbau des sozialen Wohnungsbaus. “Müssen Menschen hier wirklich obdachlos sein?”, fragt er. “Wohnen ist ein Grundbedürfnis und Menschenrecht.”
Fragt man ihn heute, was sein Zuhause ist, sagt er: “mein Sohn”. In Hamburg kennt er viele Obdachlose bis heute. In “Park Fiction” nickt er im Vorbeigehen einem bärtigen Mann zu. Der Mann nickt zurück. “Ich musste erst verstehen, was ich will, wer ich bin”, sagt er. “Heute weiß ich, dass ich immer ein Schriftsteller war.” In seinen Texten schreibe er über sein Leben, so Bloh. “Für mich sind sie wie Tagebücher.” Das Schreiben sieht er als Prozess der Selbstfindung – selbst acht Jahre nachdem er seine erste Wohnung bezog. “Die Straße”, sagt er. “Bleibt in meinem Kopf.”