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Schluss mit der Aufrechnerei

Beherrscht der Westen den Osten? Nein, meint der Theologe Richard Schröder. Wichtig seien die Einhaltung von Recht und Gesetz, aber doch nicht der Geburtsort. Ein Gastbeitrag

epd-bild/Andreas Schoelzel

Der Mitteldeutsche Rundfunk hat untersuchen lassen, wie viele im Osten Geborene zu den ostdeutschen Eliten gehören. Das Ergebnis: Die Ostdeutschen sind in der Minderheit. Und das sei ein Skandal. ­Titel der Sendungen: „Wer beherrscht den Osten?“
Ich halte das für üble Stimmungsmache durch Geschichtsklitterung. Denn suggeriert wird: Da gibt es zwei Völker, die Ostdeutschen und die Westdeutschen, und das eine beherrscht das andere. Bei Beherrschen denkt jeder an Unterdrücken.
Diese zwei Völker hat es nie gegeben. „Der Ostdeutsche“ ist ein Kons­trukt, das erst nach dem Ende der DDR entstand. Zuvor gab es einerseits die sozialistischen Internationalisten (SED), die sich über den Klassenkampf definierten – und nicht als Volk. Sie mussten die Verbindung zu ihren Westverwandten abbrechen.

Elitenwechsel gehört zur Revolution

Die Mehrheit nannte sie die Hundertfünfzigprozentigen und verstand sich als Deutsche im geteilten Deutschland. Sie beklagte, dass sie ihre Westverwandten nicht besuchen durften, aber nur hinter vorgehaltener Hand. Seit meiner Kindheit kenne ich den Spruch „DDR – Der Dumme Rest“. Das hieß: Warum sind wir nicht rechtzeitig „nach drüben“ „abgehaun“.
Bei allen Unterschieden definierten sich die Ostdeutschen über Westdeutschland. Im Sommer 1989 erklärte ein wichtiger SED-Ideologe, ohne den Systemgegensatz habe die DDR keine Existenzberechtigung. Er behielt recht. Aber anders gedacht.
Es waren die Ostdeutschen, die 1989 riefen: „Deutschland einig Vaterland“ und „Wir sind ein Volk“. Im Februar 1990 wurden die Losungen drohend: „Kommt die ­D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu ihr.“
Wir haben uns den Westdeutschen aufgedrängt. Ich finde das in Ordnung. Aber bitte nun nicht behaupten: Wir sind überfallen worden und sind fremdbestimmt.
Im Herbst 1989 fand in der DDR eine Revolution statt. Zu jeder Revolution gehört ein Elitenwechsel. Im Dezember 1989 haben viele Lehrerkollegien ihre Schulleiter abgesetzt, viele Belegschaften ihre Betriebsdirektoren. Die frei gewählte Volkskammer hat mit der Überprüfung der Richter und Staatsanwälte begonnen, aber die Einheit kam, ehe wir fertig waren.
Nun heißt es: Unter den Richtern oberster Gerichte sind nur 13 Prozent aus dem Osten und nur zwei der 200 Generäle der Bundeswehr sind Ostdeutsche. Da wird die Revolution vergessen. Wir Ostdeutschen wollten weder SED-Richter noch NVA-Generäle weiter amtieren sehen und haben auch nicht verlangt, dass Egon Krenz ­Vizekanzler wird.
In einer rechtsstaatlichen Demokratie herrscht gar nicht jemand – das „wer“ ist vielmehr typisch für Monarchien und Diktaturen –, ­sondern etwas: Recht und Gesetz. Diese sind für die östlichen Bundesländer in Ostdeutschland erlassen worden von frei gewählten Landtagen, zu denen nur die Bürger des jeweiligen Bundeslandes Stimmrecht hatten. Regierung und Verwaltung sind an Recht und Gesetz gebunden. Deshalb ist der Geburtsort für Amtspersonen zweitrangig. Aber auf Recht und Gesetz müssen sie verpflichtet sein – und sich darin auskennen.
Man kann an anderen ehemals sozialistischen Ländern studieren, was entsteht, wenn Altkader in die neuen Strukturen einrücken: ein korrupter Staat. Den vielen Westdeutschen, die zur Aufbauhilfe in den Osten gekommen sind, verdanken wir, dass wir sehr schnell eine funktionierende Verwaltung und Justiz bekommen haben und die Korruption sich nicht ausgebreitet hat.

Im Sozialismus war kein Platz für Unternehmer

1990 haben wir nach Investoren aus dem Westen gerufen. Einige sind gekommen und haben ihre Geschäftsführer und Manager mitgebracht. Jetzt heißt es: Wir sind fremdbestimmt!
Es gab in der DDR vorzügliche Facharbeiter und Ingenieure, aber keine vorzüglichen Unternehmer, von Naturtalenten abgesehen. Denn in einer Planwirtschaft ist kein Platz für Unternehmer. Unternehmen aus der DDR, die in der Marktwirtschaft Erfolg haben, verdanken dies zumeist ihren Facharbeitern und Ingenieuren aus der DDR – und einem Manager oder Geschäftsführer aus dem Westen. Das ist eine schöne Kooperation. So soll es sein.

Richard Schröder (geboren 1943 in Frohburg/Sachsen) ist evangelischer Theologe und Philosoph. Er war SPD-Fraktionsvorsitzender in der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Von 1991 bis 1997 gehörte er dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland an.