Dem Terror nicht die Zukunft überlassen: Vor zehn Jahren starteten islamistische Schergen im Irak mörderische Angriffe auf Jesiden. Landespolitiker Damhat Sisamci (SPD) fordert mehr Einsatz für Frieden.
Es war ein Grauen, das bis heute schockiert. Am 3. August 2014 überfielen Kämpfer des “Islamischen Staats” die Jesiden im Irak. Tausende Männer, Frauen und Kinder wurden grausam misshandelt, getötet oder als “Sklaven” für IS-Kämpfer verkauft. Die Islamisten vergewaltigten systematisch zahllose Jesidinnen.
Der Deutsche Bundestag hat den Massenmord vor einem Jahr als Völkermord anerkannt – im Publikum verfolgte damals auch Damhat Sisamci, als Jeside aus dem Saarland, diese besondere Debatte. “Deutschland und die Weltgemeinschaft müssen dafür sorgen, dass man dort keinen Krieg mehr fürchten muss”, sagte der saarländische Landtagsabgeordnete (SPD) jetzt der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Deutschland und Europa dürfen sich aus Sicht des Abgeordneten nicht aus der Verantwortung ziehen. Es gelte, eine Lösung für die Jesiden in ihrem historischen Siedlungsgebiet zu erreichen. “Dafür ist ein Sicherheitspuffer vor Ort und die Unterstützung anderer Staaten notwendig. Ein erneuter Angriff auf die Jesiden wäre dann ein Angriff auf die Weltgemeinschaft.”
Der Beauftragte der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit, Frank Schwabe (SPD), hat sich im Mai besorgt über die weiterhin gefährliche Lage für Jesiden im Nordirak geäußert. Wenige seien nach der Flucht zurückgekommen, mehr als 100.000 lebten weiter in Flüchtlingslagern.
Sisamci warnt vor Gefahren für Deutschland: “Konflikte kommen auch zu uns.” Und Islamisten blieben eine Gefahr, solange sie sichere Rückzugsgebiete haben. “Wer will, dass wir in Frieden und Freiheit leben, der muss Konflikte lösen und neue verhindern.”
Der Abgeordnete kritisierte, dass 2014 die Hilfe durch westliche Staaten nicht rasch genug erfolgte, um das Morden zu stoppen. Nach dem sogenannten Arabischen Frühling sei statt eines demokratischen Aufbruchs ein Vakuum entstanden, in das islamistische Kräfte gestoßen seien. Der Angriff auf das Sindschar-Gebirge im Irak mit seiner jesidischen Bevölkerung sei eine Folge davon gewesen.
Jesiden gelten als eine Bevölkerungsgruppe mit eigener Geschichte und Religion. Siedlungsgebiete befinden sich auch in Syrien und der Türkei. Es gibt auch Gemeinschaften in anderen Staaten.
In Deutschland haben geflüchtete Jesiden laut Sisamci eine große Unterstützung erfahren. Es bestehe auch ein Gefühl der Gemeinsamkeit von Christen und Jesiden, da in der Geschichte beide Religionsgruppen in diesem Gebiet verfolgt wurden. “Es gibt bei den damals Geflüchteten eine Vertrauensbasis gegenüber den katholischen und evangelischen Kirchen in Deutschland”, schildert der 31-Jährige.
“Deutschland hat die weltweit größte jesidische Gemeinschaft außerhalb der Heimatregion der Jesiden: Mehr als 200.000 leben hier”, sagt der Politiker. Die meisten kamen vor dem Genozid und würden sich als deutsche Staatsbürger mit jesidischer Religion ansehen – so wie er selbst. Es gebe neben der Politik in Deutschland keine Vertretung für hier lebende Jesiden: “Unser Bundeskanzler heißt Olaf Scholz.”
Ein automatisches Aufenthaltsrecht gibt es allerdings nicht. Während im benachbarten Rheinland-Pfalz zumindest jesidische Frauen und Minderjährige aktuell nicht in den Irak abgeschoben werden, gibt es eine solche Einschränkung im Saarland nicht. Zuletzt hatte sich Rheinland-Pfalz im Juni bundesweit für einen Abschiebestopp eingesetzt. Es gab bei der Innenministerkonferenz der Länder jedoch keine Mehrheit dafür.
Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge kamen von 2014 bis 2023 rund 100.000 jesidische Geflüchtete, darunter Nadia Murad. Sie erhielt 2018 den Friedensnobelpreis für ihren Einsatz für die Menschenrechte. Die Schutzquote für Flüchtlinge ist von 93,6 Prozent im Jahr 2015 auf unter 50 Prozent gesunken. Im ersten Halbjahr 2024 liegt der Wert bei 37,7 Prozent.
Die Familie von Sisamci kam Ende der 1980er Jahre nach Deutschland. Ihre Heimat ist die Gegend der Ortschaften Nusaybin in der Türkei und Qamishlo im Nordosten Syriens unweit des Iraks. Die politische Situation veranlasste sie zur Flucht. Sohn Damhat kam in Deutschland zur Welt, studierte und wurde Betriebsrat bei einem Automobilzulieferer. Politisch engagiert er sich seit Jahren in der SPD. Mit der Landtagswahl Anfang 2022 zog er in den Landtag ein.
Zehn Jahre nach dem Völkermord blickt er nachdenklich zurück. “Ich habe bis dahin gedacht, dass ich ein Pazifist bin. Doch es gibt Situationen, da helfen keine Gespräche.”
Seine Mutter hatte ihn am 3. August 2014, dem ersten Tag des Überfalls im Irak, angerufen, als er gerade mit Freunden im saarländischen Neunkirchen unterwegs war und einen schönen Sommertag genießen wollte. Er solle sich niemanden als Jeside zu erkennen geben, bat sie ihn im Telefonat. Eine mütterliche Angst, die er bis heute nicht vergessen hat.