Die freie Journalistin und Romanautorin Eske Hicken (52) hat 2017 ein Jahr lang bei einer Obdachlosenrechtsorganisation in Portland im US-Bundesstaat Oregon verbracht. Sie arbeitete dort in einem Restaurant für Obdachlose und schlief selbst einige Male auf der Straße. Ihre Erlebnisse verarbeitete sie im Roman “Homeless”, der am 4. September erschienen ist. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) sprach die in Frankfurt lebende Schriftstellerin darüber, was sie auf der Straße erlebte und über Spannungen zwischen der linksliberalen Mittelschicht und Obdachlosen in Portland.
KNA: Frau Hicken, rechnen Sie nach Ihren Erlebnissen in den USA auch hierzulande mit mehr Obdachlosen und “amerikanischen Verhältnissen”?
Hicken: Der Unterschied zu den USA ist, dass wir in Deutschland noch ein einigermaßen funktionierendes Sozialsystem haben. Man wird in der Regel aufgefangen, wenn man krank oder arbeitslos wird. In den USA ist das nicht so. Die Sozialhilfe dort ist zeitlich begrenzt und wenn man krank oder arbeitslos wird, rutscht man schnell in die Obdachlosigkeit. In Deutschland haben wir zwar noch keine “amerikanischen Verhältnisse”. Aber auch hier wurde das Sozialsystem beschnitten.
KNA: Trifft die Wohnungslosigkeit zunehmend auch Menschen aus der Mittelschicht?
Hicken: In Portland leben viele Menschen auf der Straße, von denen man es nicht vermuten würde. Leute, die gut ausgebildet sind, die ihr Leben im Griff hatten. Das hat mich überrascht.
KNA: Was sind die Gründe dafür, dass diese Leute in Portland auf der Straße in Zelten leben?
Hicken: Dort sind die Mieten und die Lebenshaltungskosten sehr hoch. Wenn man keine finanziellen Rücklagen hat und seinen Job verliert, aus der Krankenversicherung fliegt und die Miete nicht mehr bezahlen kann, landet man schnell auf der Straße. Hohe medizinische Kosten, die selbst getragen werden müssen, sind auch ein Faktor, warum Leute aus der Mittelschicht obdachlos werden.
KNA: “In unserem Amerika gewinnt die Liebe” heißt es auf Anti-Trump-Schildern in zahlreichen Vorgärten in Portland. Sie beschreiben, dass das manchmal nur ein frommer Wunsch ist. Wann gewinnt die Liebe nicht?
Hicken: Die Liebe gewinnt ganz oft nicht, wenn sich Menschen, die nicht obdachlos sind, mit Obdachlosen auseinandersetzen müssen. Viele Amerikaner haben immer noch die Einstellung, dass jeder es durch eigene Leistung schaffen muss – auch wenn es viele selbst nicht geschafft haben, den “Amerikanischen Traum” zu verwirklichen. Die Menschen, die auf der Straße leben, sagen oft: Wir werden entweder gar nicht beachtet und sind unsichtbar, oder wir werden angefeindet, diskriminiert und beschimpft.
KNA: Ein Satz aus dem Buch: “Auf der Seite der Armen und Unterdrückten zu sein, war immer klar. Es war allerdings nicht klar, dass die Armen und Unterdrückten irgendwann vor der eigenen Haustür auftauchen würden.” Sie kritisieren, dass die linksliberale Mittelschicht in Portland die Ideale, die sie vor sich herträgt, nicht lebt?
Hicken: So pauschal würde ich das nicht sagen. Wenn überall in der Stadt Menschen zelten müssen, dann ist das auch für Anwohner und Geschäftsleute eine schwierige Situation. Ich habe in den USA sehr viele warmherzige und engagierte Menschen erlebt, allerdings waren das nicht immer diejenigen, die ihre politisch korrekten Überzeugungen vor sich hergetragen haben. Aber das ist ja in Deutschland auch nicht anders.
KNA: Ein weiterer Satz aus dem Buch lautet: “Die Innenstadt ist eine glatte, saubere Oberfläche. Auch zwischenmenschlich.”
Hicken: In Portlands Innenstadt und Altstadt, wo die großen Geschäfte und Ladenketten sind, gibt es “No-Sit-Zones”, also Bereiche, in denen es verboten ist, zu sitzen. Man muss wissen, dass nur Menschen, die auf der Straße leben, auf den Bürgersteigen sitzen. Diese Schilder sollen die Obdachlosen aus der Innenstadt vertreiben. Die Security setzt das häufig auch um.
KNA: Sie haben ein Jahr bei der Obdachlosenrechtsorganisation Sisters of the Road gearbeitet. Im Buch wird einer wohnungslosen Person gesagt: “Gott schütze Sie!” Haben Sie sich manchmal die Frage gestellt: Wo ist jetzt eigentlich Gott?
Hicken: Ja, ich habe mir diese Frage sehr oft gestellt. Das Ausmaß des Elends ist einfach unfassbar groß! Die Menschen müssen sich ja nicht nur damit herumplagen, dass sie keine Wohnung haben, sondern es gibt auch sehr viel Gewalt auf der Straße. Es gibt Ungeziefer. Und Frauen müssen Angst haben, vergewaltigt zu werden.
KNA: Sie selbst haben vier Nächte auf der Straße geschlafen, meist in einem Zelt mit mehreren Leuten. Was haben Sie dadurch gelernt?
Hicken: Ich weiß natürlich selbst nicht, wie es ist, obdachlos zu sein, denn danach konnte ich wieder in meine Wohnung zurückgehen. Ich habe das aus Recherchegründen gemacht, und so, dass es für mich nicht gefährlich war. Diese Privilegien haben die Menschen auf der Straße nicht. Im Grunde ist es überhaupt nicht akzeptabel, dass Menschen auf der Straße schlafen müssen. Es ist eine Form von Unmenschlichkeit, die immer mehr zur Gewohnheit wird und auch in vielen deutschen Städten, etwa in Frankfurt am Main, zum Stadtbild gehört. Ich wusste, dass Ausgrenzung konkrete Folgen hat, aber mich hat doch überrascht wie viele transsexuelle Menschen in Portland auf der Straße leben.
KNA: In Deutschland gibt es viele “Tafeln”, also nicht-staatliche gemeinnützige Hilfsorganisationen, die Lebensmittel, die sonst vernichtet würden, an Bedürftige verteilen. Wie finden Sie das?
Hicken: Leider sind “Tafeln” angesichts des zunehmenden Armutsproblems in Deutschland inzwischen unverzichtbar. Doch es ist sehr problematisch, wenn sich der Staat darauf verlässt, dass private Organisationen soziale Aufgaben abdecken. Der Staat darf sich im sozialen Bereich nicht seiner Verantwortung entziehen.